Die Ernennung von Joseph F. Kahn zum neuen Chefredaktor der «New York Times» beinhaltet wohl keine markante Kursänderung des Weltblatts. Obwohl progressive Kreise in den USA mehr Aktivismus fordern. Herausfordernd ist auch der Generationenkonflikt auf der Redaktion: zwischen Jüngeren, die für ein klares politisches Engagement plädieren, und Älteren, für die absolute Unabhängigkeit nach wie vor oberstes Prinzip ist.
Zwar stieg am 19. Februar 2022 kein weisser Rauch auf vom Dach des 319 Meter hohen Wolkenkratzers der «New York Times» an der Eight Avenue in Manhattan. Aber gross war das Interesse auch so. Verleger A. G. Sulzberger gab die Identität des neuen Chefredaktors der Zeitung lediglich per Communiqué bekannt.
Seine Wahl fiel auf den 57-jährigen Joseph («Joe») Kahn, der bisher als stellvertretender Chefredaktor des Blatts fungiert hatte: «Joe bringt ein einwandfreies Urteilsvermögen für News mit, ein anspruchsvolles Verständnis für die Kräfte, welche die Welt bewegen und einen langen Leistungsausweis, wie man Journalisten helfen kann, ihr ehrgeizigstes und mutigstes Werk zu schaffen.» Mit anderen Worten: Er ist ein «Times Man», wie er im Buche steht.
Joe Kahns Kür kam wenig überraschend, auch wenn im Vorfeld der Entscheidung ausgiebig spekuliert worden war, wer die Nachfolge des 65-jährigen Dean Baquet antreten würde, der nach acht Jahren an der Spitze der «Times» im Juni traditionsgemäss in den Ruhestand tritt. Zumindest in Pressekreisen erregt die Wahl des Redaktionsleiters des Blatts jeweils ähnlich viel Aufmerksamkeit wie die Wahl des Papstes in Kirchenkreisen. Dies aufgrund der unbestrittenen Annahme, dass der Chefposten in New York die mächtigste Position im amerikanischen Journalismus ist.
Ein erfolgreicher Vorgänger
Den Vorschusslorbeeren seines Verlegers zum Trotz dürfte es Joe Kahn nicht leichtfallen, in die Fussstapfen seines Vorgängers zu treten, denn Dean Baquet, ein charismatischer und umgänglicher Mensch, hat die 1700-köpfige Redaktion während seiner Amtszeit mit wenigen Ausnahmen äusserst erfolgreich geführt. Unter ihrem ersten schwarzen Chefredaktor hat die «New York Times» 18 Pulitzerpreise gewonnen und ihre Berichterstattung etwa über die Amtszeit Donald Trumps, die Corona-Pandemie und die #MeToo-Bewegung ist beispielhaft gewesen, was derzeit auch auf Depeschen, Kommentare und Analysen über den Krieg in der Ukraine zutrifft.
Ausserdem ist unter Bacquet die Zahl der Digital-Abonnenten der «Times» von 966’000 bei seinem Amtsantritt 2014 auf inzwischen rund zehn Millionen gewachsen. Besonderes Gewicht hat der Südstaatler aus New Orleans stets auf investigativen Journalismus gelegt, so zum Beispiel bei der Suche nach Trumps Steuererklärungen. Wobei er sich jeweils gegen den Vorwurf wehrte, die «Times» berichte zu aggressiv über den Ex-Präsidenten. «Unser Job ist es nicht, in Opposition zu Donald Trump zu sein», sagte er 2017 in einer Rede: «Unser Job ist es, so akribisch wie möglich über Donald Trump zu berichten.»
Eine Studie in Kontrasten
Joe Kahn ist als Typ unauffällig, ruhig und überlegt. Eher neigt er dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Der Sohn eines erfolgreichen Unternehmers in Boston und Harvard-Absolvent soll ein Liebhaber klassischer Musik sein und gerne Ski fahren. Auch seine bisherige Karriere lässt sich sehen. Seine erste Station war «The Dallas Morning News», wo er als Lokaljournalist allerdings nur kurz blieb, um auf Anraten eines Professors erneut in Harvard zu studieren und Mandarin zu lernen.
In der Folge ging Kahn als freier Journalist nach China, von wo er 1989 über die Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking berichtete: «Eine Nation mit über einer Milliarde Menschen und nur wenigen Auslandkorrespondenten zog mich an.» Er überredete die «Morning News», ihn als Korrespondenten zu engagieren und gewann 1994 zusammen mit der Zeitung einen ersten Pulitzerpreis für Auslandberichterstattung. Das Thema: Gewalt gegenüber Frauen. Als Quellen für sein Ziel, Korrespondent zu werden, nennt er heute die Romane Graham Greens und John Le Carrés.
Langjähriger China-Korrespondent
Nach kurzen Intermezzi beim «Wall Street Journal» und bei der «Far Eastern Review» begann er 1998 für die «New York Times» zu berichten, erst über Wall Street und Wirtschaftsthemen und später aus Shanghai und Beijing erneut über China, wo er fünf Jahre lang blieb und 2006 mit «Times»-Kollege Jim Yardley einen zweiten Pulitzerpreis für eine Untersuchung des antiquierten chinesischen Rechtssystems gewann. Seit 2007 ist Joe Kahn mit der Chinesin Shannon Wu verheiratet, die Mitarbeiterin der World Bank war. Das Paar hat zwei Söhne.
Ein Objekt gelegentlicher Spekulation auf der Redaktion ist die Grösse des Vermögens, das Kahn von seinem Vater geerbt hat. Der 90-jährige Gay Talese, einer der Erfinder des New Journalism und Autor von «The Kingdom and the Power», der wohl erhellendsten Geschichte der «New York Times», wundert sich, ob Kahn der erste Chefredaktor der Zeitung ist, der mehr Geld besitzt als die Familie, der das Blatt gehört. «Gay Talese sollte noch etwas gründlicher recherchieren», sagt Kahn dazu: «Das ist pure Vermutung.»
2008 kehrte Joe Kahn auf die Redaktion in New York zurück, wo er zum Auslandchef und stellvertretenden Chefredaktor aufstieg. 2012 verantwortete er eine Aufsehen erregende Recherche über den verborgenen Reichtum der chinesischen Elite, was zur Folge hatte, dass die Machthaber in Peking den Zugang zur Website der «Times» bis heute sperren und Mitarbeitende des Blatts auswiesen. Auch Kahn selbst war in den Anfängen seiner Korrespondententätigkeit zwischenzeitlich aus China ausgewiesen worden.
Berichterstattung rund um die Uhr
Unter Joe Kahn etablierte die «New York Times» grössere Auslandbüros in London und Seoul, um rund um die Uhr näher und schneller über das globale Geschehen berichten zu können. Er half mit, eine Redaktion, die sich lange Zeit auf die gedruckte Zeitung fokussiert hatte, in ein Team zu verwandeln, das digital grosse Fortschritte machte und im Wettstreit mit Kabelfernsehsendern und sozialen Medien verzugslos zu berichten begann. Das Büro der «Times» in London zählt rund 80 Beschäftigte. Insgesamt berichten in 30 Auslandbüros über 300 Korrespondentinnen und Korrespondenten für die «Times».
Ein Tolggen in Kahns Reinheft war 2018 seine Unterstützung des narrativen Podcast «Caliphate» von Reporterin Rukmini Callimachi, die einen Kämpfer des Islamischen Staats (IS) in Syrien, einen Kanadier pakistanischer Herkunft namens Abu Huzayfah, zu Wort kommen liess. Dessen dramatische Erzählungen erwiesen sich jedoch im Nachhinein als weitgehend erfunden und als zu oberflächlich überprüft. Der auskunftsfreudige Jihadist war mutmasslich gar nie in Syrien gewesen. Die Chefredaktion aber hatte sich trotz Bedenken erfahrener Reporter auf der Redaktion für den Podcast stark gemacht. Dean Baquet sollte den Fall «Caliphate» später reumütig «als institutionelles Versagen» deklarieren.
Redaktionsinterne Spannungen
Er hätte nie gedacht, sagte Kahn nach seiner Ernennung, dass seine Zeit als Korrespondent in China ihn dereinst befähigen würde, Chefredaktor der «New York Times» zu werden. Seither hat er auf jeden Fall, in Zeiten Donald Trumps nicht unwichtig, Erfahrung im Umgang mit Propaganda und Fake News. Derweil bemängeln externe Kritiker, dass die «Times», anders als die «Washington Post» und die «Los Angeles Times», nicht den Mut gehabt habe, mit einer liebgewonnenen Tradition zu brechen und einen Chefredaktor zu installieren, der von aussen kam. Was auf der Redaktion für frischen Wind gesorgt hätte.
Diese Stimmen argumentieren, die «Times» brauche einen Kulturwechsel, um besser mit veränderten Zeiten fertig zu werden. Sie meinen damit die Spannungen auf der Redaktion zwischen einer jüngeren Generation, die für mehr Aktivismus und politisches Engagement im Journalismus plädiert, und einer älteren Generation, die an Objektivität glaubt und die strikte Trennung von Nachricht und Meinung hochhält. Der künftige Kurs dürfte auch mitentscheiden, ob es der «Times» gelingt, eine jüngere Leserschaft anzuziehen, ohne das ältere Publikum zu vergraulen.
Dabei ist die «New York Times» längst kein reiner Zeitungsverlag mehr. Mit ihren rund 5’000 Angestellten ist die «Times» zu einem profitablen Medienunternehmen mutiert, das auch Dokumentarfilme, Podcasts, Newsletters und eine auf Kochrezepte spezialisierte App produziert. Unlängst hat das Unternehmen für 550 Millionen die Sport-Website «The Athletic» mit 1,2 Millionen Abonnenten und das populäre Online-Buchstabenspiel «Wordle» erworben. Längst vorbei die Zeiten, als der Verlag am Rande des Absturzes schlingerte und 2009 nur dank eines Millionenkredits des mexikanischen Milliardärs Carlos Slim überlebte.
Auch Kritik von links
Linke in Amerika monieren zum Beispiel, der bisherige Zugang der «Times» zur Berichterstattung über Donald Trump und dessen Anhänger genüge nicht mehr in Zeiten, in denen die Demokratie und das Wohlergehen der Nation akut gefährdet seien. Ausserdem, heisst es, sei die Redaktion nicht divers genug, d. h. nach wie vor zu weiss. In den USA ist es sonst eher die Rechte, welche die «Times» zu kritisieren pflegt.
«Sie (die Kritiker) wollen, dass die Mitarbeitenden der Times sehen, was sie sehen – einen Angriff auf demokratische Institutionen, die Korruption der amerikanischen Republik», sagt Medienkritiker Jay Rosen von der New York University (NYU): «Und sie wollen, dass sie entsprechend handeln.» Die Redaktion aber sehe solche Stimmen als Bedrohung, da sie die Zeitung in ein Oppositionsorgan verwandeln wollten: «So aber sieht sich die Times nicht.» Dean Baquet zufolge ist es stets die Aufgabe der Zeitung gewesen, unabhängig von politischen Überzeugungen die bestmögliche Version der Wahrheit zu finden: «Unabhängigkeit bedeutet, von jedem und jeder sowie von jeglicher Ideologie frei zu sein – so einfach ist das.»
Globale Ambitionen
Joe Kahn hat sich nach seiner Ernennung zum Thema US-Innenpolitik wie folgt geäussert: «Wir wissen nicht, wohin sich der politische Zeitgeist in nächster Zeit bewegt … Besser, uns Mal für Mal anzustrengen, unabhängig zu sein, als dem Zeitgeist nachzujagen.» Das sieht auch «Times»-Verleger A. G. Sulzberger so: «Er (Kahn) wird die Grundwerte journalistischer Unabhängigkeit stets über alles stellen.»
Der neue Chefredaktor selbst hat verlauten lassen, eine seiner Prioritäten werde es sein, das Vertrauen der Öffentlichkeit «in Zeiten der Polarisation und der Parteilichkeit» wiederzugewinnen. Und die «New York Times» im Nachrichtengeschäft auf eine Stufe mit globalen Konkurrenten wie CNN und der BBC zu hieven. Währenddessen wird auf der Redaktion bereits spekuliert und taktiert, wer in acht Jahren Joe Kahn nachfolgen könnte.
Quellen: The New York Times, New York Magazine, The Washington Post, Poynter, Axios