Es war ein bewegender Augenblick, als in der Nacht auf den Mittwoch der Minenarbeiter Florencio Avalos aus der engen Metallkapsel stieg und wortlos seine Frau Monica und den achtjährigen Sohn Byron in die Arme schloss. Der 31-jährige Vorarbeiter hatte als erster der 33 chilenischen Kumpel, die seit dem 5. August in beinahe 700 Meter Tiefe eingeschlossen waren und nach 17 Tagen banger Ungewissheit erstmals ein Lebenszeichen an die Erdoberfläche schicken konnten, eine der aufwendigsten Rettungsaktionen in der Geschichte des Bergbaus glücklich überstanden.
Nicht einmal 24 Stunden später waren alle Verschütteten an der Erdoberfläche. Überall im Land gingen die Menschen auf die Strasse, jubelten, sangen, freuten sich über das „Wunder in der Wüste“, feierten die „Helden der Nation“ - und ein bisschen auch sich selbst. Freude und Stolz waren gleichermassen berechtigt: Ihr Land hatte sich in einer ausserordentlich schwierigen Situation von seiner besten Seite gezeigt, und das vor den Augen der ganzen Welt. Staatschef Sebastián Piñera, der die Operation in der Atacama-Wüste vor Ort begleitete, war bestimmt nicht der einzige, der in der Stunde des Triumphs das Gefühl hatte, dass „Chile bereit ist für grosse Dinge“.
Stabil und solid
Mit der vorbildlich organisierten und durchgeführten Rettung der Minenarbeiter haben die Chilenen ihren Ruf als Musterschüler der Region gefestigt. Ihr Land hat seit der Rückkehr zur Demokratie vor zwei Jahrzehnten enorme Fortschritte gemacht. Chile erfreut sich politischer Stabilität und eines hohen Masses an Rechtssicherheit.
Den Kampf gegen die Korruption hat es weit energischer geführt als alle anderen lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme von Uruguay. Die Mitte-links-Regierungen, die bis Ende des vergangenen Jahres ununterbrochen an der Macht waren, haben die demokratischen Institutionen gestärkt und das Land Schritt für Schritt von den Hypotheken der Militärdiktatur (1973-1990) befreit. Augusto Pinochets Schatten ist noch nicht endgültig verschwunden, doch die Demokratie in Chile ist inzwischen dermassen gefestigt, dass das Erbe des 2006 verstorbenen Ex-Juntachefs für sie keine Bedrohung mehr darstellt.
Chile geht es heute auch deshalb besser als den meisten anderen Staaten Lateinamerikas, weil in der Bevölkerung ein breiter Konsens darüber herrscht, was dem Gemeinwohl zuträglich ist und was nicht. Die chilenischen Soziologen Miguel Chávez Albarrán und Enrique Fernández Darás, sind zum Schluss gekommen, dass in ihrem Land „ein demokratisches politisches System aufgebaut werden konnte, das nicht darauf abzielt, die Gesellschaft zu vereinnahmen, sondern das die Voraussetzungen für die Entfaltung ihrer Kräfte schaffen will“. Vom Grundsatz, der diesem Modell zugrunde liegt, haben sich die sozialdemokratischen Staatchefs Ricardo Lagos und Michelle Bachelet genauso leiten lassen wie der amtierende konservative Präsident Sebastián Piñera.
Wenige, die viel haben
Auch wirtschaftlich ist Chile kontinuierlich gewachsen. Es kann sich eines ausgeglichenen Finanzhaushaltes, tiefer Inflation und geringer Verschuldung rühmen. Soziale Reformen haben dazu beigetragen, dass Not und Elend deutlich abnahmen. 1987 lebten 45 Prozent der Bevölkerung in Armut, heute sind es weniger als 20 Prozent. Im Vergleich zu anderen Ländern des Subkontinents ist dies ein beachtliches Ergebnis. Dieser Fortschritt kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im sozialen Bereich noch viele Probleme ungelöst sind. So gehört Chile weiterhin zu den Ländern mit einer extrem ungleichen Einkommensverteilung.
Die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung verfügen über ein mehr als 30-mal so hohes Einkommen wie die ärmsten 10 Prozent. Um diese Kluft zu verringern, muss der Hebel in erster Linie bei der Bildung angesetzt werden. Bachelet hat während ihrer Amtsperiode Reformen in die Wege geleitet. Die Mängel sind jedoch noch längst nicht beseitigt. Chancengleichheit ist für die meisten Chilenen aus den unteren sozialen Schichten nach wie vor ein leeres Wort.
Viele von ihnen müssen ihr tägliches Brot unter solch harten Bedingungen verdienen wie die Kumpel in der Atacama-Wüste, ohne dass sich Regierung und Wirtschaftskapitäne gross Gedanken über ihr Schicksal machen. Die Mine San José war in einem miserablen Zustand, die Besitzer verstiessen gegen elementarste Sicherheitsvorschriften. Wären die Behörden ihrer Kontrollpflicht nachgekommen, hätte das Werk längst geschlossen werden müssen. Und es hätte keines Wunders bedurft, damit die 33 Bergarbeiter nach der längsten Schicht ihres Lebens heil in den Schoss ihrer Familien zurückkehren konnten.