Angeführt von Raja Muda Azzumudie hielten zwischen 100 und 300 bewaffnete Filipinos, die sich als Mitglieder einer „Armee des Königlichen Sultanats von Sulu“ bezeichneten, drei Wochen lang Kampung Tanduo besetzt, ein Dorf nahe Lahad Datu in der malaysischen Borneo-Provinz Sabah. Sie ignorierten die Aufforderung des philippinischen Präsidenten Benigno Aquino, zurückzukehren, und wiesen das Angebot auf freien Abzug der malaysischen Sicherheitskräfte zurück. Sie seien gekommen, das Land Sultan Jamalul Kiram III. zurückzufordern und zum Kampf bereit, sollten sie gewaltsam aus Sabah vertrieben werden, erklärten sie.
Das ignorierte Problem
Am Freitag letzter Woche kam es zu einem ersten Schusswechsel zwischen den Filipinos und der malaysischen Polizei, in dem zwei Polizisten und zwölf der Eindringlinge starben. Am Samstag fand in Semporna, etwa 300 km westlich von Lahad Datu, eine weitere Schießerei statt, in der 18 Menschen starben. Inzwischen hat die malaysische Armee zwei zusätzliche Bataillone nach Sabah abkommandiert und das ganze Gebiet abgeriegelt. Vorgestern lief das Ultimatum, das die malaysische Regierung der Gruppe unter Führung des Bruders des Sultans, Raja Muda Azzumudie, gestellt hatte, ereignislos ab. Sowohl Manila als auch Kuala Lumpur wollen weiteres Blutvergießen vermeiden.
Fünf Dekaden lang konnten Manila und Kuala Lumpur das Thema ignorieren. Doch nach all dem Lärm zwischen China und Japan um die Senkaku oder Diaoyu-Inseln, den anhaltenden Debatten zwischen China, Malaysia, Vietnam, Brunei und den Philippinen um die Spratleys, zwischen Russland und Japan um die südlichen Kurilen sowie zahlreichen weiteren Konflikten in den südostasiatischen Meeren um Inseln, Eilande oder auch nur Felsbrocken und dem militanten Auftritt der 100 Filipinos kann das Problem nicht mehr länger unter den Teppich gekehrt werden.
Ein philippinische Sultanat auf Borneo
1457 gründete der im heutigen Malaysia geborene arabische Forscher und Gelehrte Sayyid Abu Bakr Abirin das Sultanat von Sulu, das den Süden der Philippinen und die Inseln der Sulusee umfasste. 1703 (andere Quellen sagen 1658) schenkte der Sultan von Brunei dem Sultanat von Sulu Nordborneo als Dank für die Hilfe, die Sulu gegen eine Rebellion geschickt hatte. Zwar wird die Souveränität des Sultanats heute von keinem Staat anerkannt. Doch unter Berufung auf das Erbe des Sultans von Sulu, der sein Herrschaftsgebiet im Vertrag von 1878 gegen eine jährliche Rente von 5000 malayischen Dollar der Britischen Nordborneo Gesellschaft überlassen hatte, erheben die Philippinen Anspruch auf den östlichen Teil Nordborneos, zu dem auch die Insel Sipadan gehört, von der die Rebellengruppe Abu Sayyaf vor 13 Jahren 22 Touristen und Hotelangestellte, darunter die Göttinger Familie Wallert, nach Jolo (Sulusee) entführte.
Bis heute stellt die malaysische Botschaft in Manila jedes Jahr einen Scheck über 5300 Ringgit (US$ 1710) auf die Erben des Sultans von Sulu aus. Die unterschiedlichen Übersetzungen des Vertrags führten zu dem Disput. Während der Sultan in der britischen Version sein Land den Engländern „überlässt“, „verpachtet“ er es in der Sulu-Version nur. Malaysia betrachtet die Frage als irrelevant, weil die Bewohner 1963 bei der Staatsgründung aus freien Stücken der Malayischen Föderation beigetreten seien. Manila allerdings beruft sich auf einen Erben des Sultans, Esmail Kiram, der Autorität und Souveränität über Nordborneo 1962 an den philippinischen Präsidenten abtrat.
Die Rückkehr des Sultans
Nun, so scheint es, will der sieche Sultan Jamalul Kiram III., einer von zahlreichen Erben des 1936 verstorbenen letzten Sultans, noch einmal seinen Anspruch anmelden. Angeblich ist er aufgebracht, weil er bei der Zusammenstellung der Delegation, die seit Oktober letzten Jahres Friedensverhandlungen mit den Guerillas der Islamischen Moro Befreiungsfront (MILF) führt, nicht berücksichtigt wurde, und beabsichtigt mit der Aktion, diesen Friedensprozess zu torpedieren. Der Führer der Nationalen Moro Befreiungsfront (MNLF), Nur Misuari, der bereits 1996 Frieden mit Manila schloss, soll ihn heimlich unterstützen, weil auch er nicht zu den Verhandlungen eingeladen wurde. Zwar gibt Misuari zu, dass unter den Angreifern „ein paar MNLF-Freiheitskämpfer“ sind, behauptet jedoch: „Sie gingen dorthin ohne mein Wissen. Ich habe sie nicht dorthin befohlen. Es wäre sehr verantwortungslos, uns mit der Sache in Verbindung zu bringen.“
Einer anderen Theorie zufolge ist die Dorfbesetzung nur ein außer Kontrolle geratener Publicity-Stunt der Erben des Sultanats, die schon seit langem neue Verhandlungen über die Höhe der “Rente” fordern und in diversen Schreiben an die Regierung in Kuala Lumpur bis zu 855 Millionen Dollar verlangten.
Umstrittenes Gebiet, strittige Rechtslage
Der Zwischenfall könnte ein erneutes Aufflammen des MILF-Guerillakriegs auslösen, so wird befürchtet. Sollten sich die Tausug, die einst von den Inseln der Sulusee nach Malaysia emigriert waren, ihren philippinischen Vettern aus Solidarität anschließen, könnte das langfristig gefährliche Folgen für die Beziehungen zwischen den beiden Staaten haben. Immerhin hat Präsident Aquino seine juristischen Berater schon beauftragt, die Ansprüche auf das Gebiet des einstigen Sultanats zu prüfen. Auch die Regierung in Kuala Lumpur steht unter Druck. Die Öffentlichkeit kritisiert im Zusammenhang mit der „Invasion“ Sicherheitsmängel und fordert ein hartes Durchgreifen, um die Souveränität Malaysias zu garantieren.
Die Rechtslage ist äußerst strittig. Teil VI der UN-Konvention zum Gesetz der See (UNCLOS) gibt der geographischen Lage Priorität vor den historischen Ansprüchen, was zugunsten der Philippinen spräche. Sabah ist 1143 km von Manila und 1678 km von Kuala Lumpur entfernt. Gleichzeitig berücksichtigt das internationale Recht aber auch die Leistung, die ein Land zur Entwicklung der umstrittenen Region beigetragen hat. Diese Betrachtungsweise spricht für Malaysia.