Die Entscheidung des Obersten Gerichts wird allgemein begrüsst, so von saudi-arabischen Menschenrechtstaktivisten wie auch vom Shura-Rat, dem Gremium, das die Regierungspolitik mit beratender Stimme begleitet. Eines seiner Mitglieder sagte gegenüber Arab News, der Wandel spiegele die Reformen des Königreichs wider. Er fügte hinzu: «Dies ist eine Entscheidung, die die grosse Weisheit der saudischen Institutionen repräsentiert und die mit der strahlenden Zukunft des Königreichs Saudi-Arabien zusammenfällt.» In der Entscheidung heisst es: «Der Beschluss ist eine Erweiterung der unter der Leitung von König Salman und unter der direkten Aufsicht von Kronprinz Muhammad Bin Salman eingeleiteten Menschenrechtsreformen.»
Also wieder ein neuer Schritt des saudischen Kronprinzen, seiner Reformpolitik angesichts der Corona- und Erdölkrise einen neuen Impuls zu verleihen? Oder geht es um mehr?
Der wahhabitsch-saudische Pakt
Das Recht, als Strafe eine Auspeitschung zu verhängen, war bislang Privileg der Richter, durch das sie auch ihren Anspruch auf Interpretationsgewalt bekundeten. Das Strafregime der Richter folgte nicht einer kodifizierten Norm, sondern basierte auf einem wahhabitisch-puritanischen Gemeinsinn. Die richterliche Gewalt war damit aufs Engste mit dem Selbstverständnis der wahhabitischen Elite verbunden. Ihr richterliches Privileg hatten sich die wahhabitischen Puritaner schon vor mehr als 200 Jahren erstritten, und es bildet einen wesentlichen Teil der Grundordnung und der saudischen Staatsraison.
Es sei daran erinnert, dass das Königreich seine Macht auf einem Pakt aufbaut, den die saudische Fürstenfamilie aus dem zentralarabischen Hochland Najd 1744 mit dem puritanischen Prediger Muhammad Ibn ’Abdalwahhab und seinen Anhängern geschlossen hatten. Die Puritaner erkannten darin die Herrschaftsexekutive der saudischen Fürsten an, diese ihrerseits gestanden den wahhabitischen Predigern die rechtliche und moralische Kontrolle über die Stammesgemeinschaften zu.
Diese duale Gewaltenteilung hatte für die Saudis den Vorteil, dass die Bevölkerung über die puritanische Auslegung des Islam zu einer Untertanengemeinschaft vereint werden konnte, ohne dabei die soziale Ordnung der Stämme in Frage zu stellen. Stamm, Staat und Religion bildeten fortan eine Ordnung, die auf dem Prinzip gegenseitiger Verpflichtung, Loyalität und Solidarität beruhte.
Die Wahhabiten, also die islamischen Puritaner, konnten über die Jahre ihre Kontrolle über das Recht und die öffentliche Moral stetig ausbauen. Allerdings war das Machtgleichgewicht der drei Säulen des Königreichs, also des Staats, der Religion und der Stämme, nicht immer gegeben. So hatten 1927 und 1931 Puritaner in Allianz mit Stämmen, die sich aufgrund der saudischen Herrschaftspolitik ihrer Ressourcen beraubt sahen, gedroht, die saudische Hegemonie zu stürzen. Die Fürsten reagierten ihrerseits mit einer drastischen Aufwertung ihrer Herrschaftsmacht, unter anderem mit der Ausrufung eines zentralistischen saudi-arabischen Königreichs im Jahre 1932.
Die saudische Hegemonie
In Folge versuchte das königliche Regime, die Kontrolle über die religiösen und stammlichen Institutionen zurückzuerlangen. Letzteres fiel nach 1945 durch die neuen Erdölreichtümer leichter, denn nun konnte das Regime die Stämme durch ein ausgeklügeltes Rentensystem an sich binden und die von den Stämmen erbrachte Solidaritätsleistung gegenüber ihren Angehörigen kompensieren.
Die Institutionen der wahhabitischen Puritaner hingegen liessen sich nicht einfach verstaatlichen. Das königliche Regime musste sich darauf beschränken, ihre Institutionen im Bereich des Rechts, der Sittenkontrolle und der religiösen Bildung zu zentralisieren und in eine hierarchische Verwaltungsordnung einzubetten. Dieser Prozess hatte schon nach dem 2. Weltkrieg begonnen und erreichte in den 1950er und 1960er Jahren einen Höhepunkt.
Natürlich ging das auch nicht widerspruchslos über die Bühne. In den 1970er Jahren formierte sich erneut eine radikal-puritanische Opposition, die den Gründungspakt von 1744 aufkündigen und das puritanische Establishment selbst in die Machtpositionen des Staats führen wollte.
Der anti-saudische Protest der radikalen Wahhabiten begleitete fortan die saudische Regierungspolitik. Höhepunkt war die Besetzung des Heiligtums in Mekka durch eine Endzeitsekte radikal-wahhabitischer Schwärmer im Jahr 1979.
Zwei neue Gegner
Als sich dann aber in den 1990er Jahren jüngere Parteigänger der radikalen, anti-saudischen Puritaner sogar aus der wahhabitischen Tradition zu lösen begannen und sich zu neuen ultraislamischen Jihadgemeinschaften zusammenfanden, gab es nochmals eine Konvergenz von saudischen und wahhabitischen Interessen: Nur sich gegenseitig stützend und sichernd würden sie dieser neuen, terroristischen Gefahr begegnen können.
Diese Interessenskonstellation prägte die Lage in Saudi-Arabien bis zum Beginn des Arabischen Frühlings 2011. Dieser zeitigte zwei mächtige Konkurrenten um die islamische Deutungsmacht, auf der das Königreich seine Legitimität gründete: Zum einen war da 2012 der politische Aufstieg der Muslimbrüder, die schon seit 1947 im Königreich verboten waren, die nun aber in Ägypten die Macht übernommen hatten, und zum anderen wuchs seit 2014 der Eindruck, ultraislamische Jihadgemeinschaften in Syrien, Irak und Jemen würden das Königreich umzingeln und belagern. Das Regime fürchtete, dass diese Bünde auch in Saudi-Arabien einen sozialen Nährboden finden könnten. Der von Saudi-Arabien mit eingefädelte Sturz des ägyptischen Präsidenten Mursi deutete an, dass das Königreich beide Akteure gleichermassen als Erzfeinde betrachtete. Deren Propaganda stand im diametralen Gegensatz zur saudischen Staatsraison.
Ein neues, post-wahhabitisches Saudi-Arabien?
Um 2013 herum muss das Herrscherhaus entschieden haben, einen radikalen Schnitt zu machen und den Pakt mit den Wahhabiten aufzukündigen. Als Salman Bin ’Abdal’aziz 2015 als König eingesetzt wurde, schien die Zeit reif zu sein. Der achtzigjährige Monarch begann sofort, seinen Sohn Muhammad politisch aufzubauen und ernannte ihn 2017 zum Kronprinzen und damit zum faktischen Regenten. Damit war die Reformpolitik, die im Kern auf die Neufassung der saudischen Staatsraison hinauslief, unumkehrbar geworden.
Nur eine Aufkündigung des wahhabitisch-saudischen Pakts von 1744 könne, so der neue saudische Konsens, das Königreich vor einer Desintegration schützen. An die Stelle der puritanisch-saudischen Schutz- und Trutzgemeinschaft habe eine futuristische Utopie zu treten, die in der urbanen Neugründung Neom am Roten Meer ihren symbolischen Ausdruck zu finden habe. Das neue Saudi-Arabien sollte Neom sein.
Und dies bedeutete die Kündigung des Pakts mit den Wahhabiten. Dies wiederum hatte zur Folge, dass der Staat die religionspolitischen Aufgaben der Wahhabiten zu übernehmen hatte. Tatsächlich entwickelte der Staat nun eine neue Gouvernanz der religiösen Ordnung, die unter anderem Frauen mehr Rechte zugestand, die Unterhaltungsindustrie ermöglichte, die die Exekutivmacht der wahhabitischen Sittenwächter aushebelte und die nun sogar ins Kerngeschäft der wahhabitischen Ordnung eingriff, nämlich ins Justizsystem.
Faktisch ist es nun der Staat, der anstelle der wahhabitischen Elite eine islamische Ordnung für Saudi-Arabien auslegt. Der saudische Islam hat aber kaum noch etwas mit dem Islam der wahhabitischen Puritaner zu tun. Der erste Höhepunkt der Saudisierung der Staatsordnung ist nun erreicht. Erstaunlich ist, wie schwach der Protest der wahhabitischen Institutionen ist. Nicht wenige Wahhabiten scheinen bereit, ihre puritanische Gesinnung bereitwillig dem Staat anzuvertrauen und sich ganz in die Untertanengemeinschaft einfügen.
Aus der Corona-Krise zieht das Regime insofern Nutzen, als dass es sich als die einzig effektive Ordnung präsentieren kann, mit der die Krise auch und gerade im religiös-kultischen Bereich bewältigt wird. Es sei daran erinnert, dass die wahhabitische Puritaner den Islam vor allem als öffentliche Gemeinschaftsordnung definiert hatten. Die Hygienepolitik des Regimes aber interveniert nun genau in diesen Bereich wahhabitischer Identität, indem es die religiöse Praxis privatisiert und aus der Öffentlichkeit verbannt. Man wird sehen, wie das Regime mit der kommenden Pilgerfahrt (28. Juli bis 2. August 2020) umgehen wird. Allerdings wird sich noch zu erweisen haben, ob diese saudische Politik tatsächlich die Wahhabiten auch nachhaltig gefügig machen wird.
Und die Stämme?
Offen ist auch, ob und in welcher Weise sich das königliche Regime der Loyalität der Stämme sicher sein kann. Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die alte Politik, sich Loyalität über Renten zu erkaufen, an Grenzen stösst. So wächst der Protest der Huwaytat-Stämme im Nordwesten gegen die Versuche des Staats, sie aus den Gebieten, die für die 30 (!) Zukunftsstädte von Neom vorgesehen sind, zu vertreiben. Ein erstes Opfer ist schon zu beklagen: ’Abdarrahim al-Huwayti soll von saudischer Polizei erschossen worden sein. Andere Huwaytis sitzen wohl im Gefängnis.
Durch den Preisverfall für Rohöl und Rohölprodukte droht dem saudischen Regime zudem, das Geld für die Finanzierung von Neom und damit auch indirekt für die Fortführung der grosszügigen Rentenpolitik auszugehen. Das aber könnte bedeuten, dass wie schon jetzt in Libyen und Irak auch in Saudi-Arabien die Stämme als Träger eigenständiger Solidaritätsordnungen wieder an Macht und Bedeutung gewinnen werden.
Sicher ist, dass die Neuerfindung des saudischen Staats und die Saudisierung der post-wahhabitischen Gesellschaft mit einer wachsenden Repression einhergehen wird. Ob diese nur temporär ist und später auch eine politische Liberalisierung erlauben wird oder ob die saudische Ordnung der Zukunft dauerhaft eine Elitendiktatur sein wird, ist noch nicht abzusehen.