Diesen Roman konnte nur er schreiben: Sherko Fatah. Als Sohn eines Kurden aus dem Irak und einer Deutschen 1964 in Ostberlin geboren, gilt er heute als einer der besten jüngeren Romanciers Deutschlands. Familiäre Bindungen machen ihn zu einem intimen Kenner des Landes, das er beschreibt. Er hat den Irak bereist, kann sich in die Mentalität seiner Bewohner hineinfühlen. Und er verfügt über eine packende, dabei nuancenreiche Sprache, die die Lektüre des harten und grausamen Buchs zu einem eindrücklichen Abenteuer macht.
„Der letzte Ort“ (erschienen 2014 im Luchterhand Verlag) erzählt die Geschichte einer Entführung und spielt im Norden des Iraks, dort, wo die IS-Terroristen die Macht an sich gerissen haben. Albert, ein junger Deutscher, ist zusammen mit seinem Uebersetzer, dem Einheimischen Osama entführt worden. Die Entführer sind sich über ihre Absichten nicht im klaren, sie haben sich hinsichtlich der Prominenz und des entsprechenden Wertes ihrer Opfer getäuscht; die beiden Männer werden von einer Terroristengruppe an eine andere verschachert, bekommen es zuerst mit Schiiten, dann mit Sunniten zu tun. Jeder Tag kann ihr letzter sein, was sie zermürbt, mal wild aufbegehren, mal verzweifeln, mal resignieren lässt.
Der Roman beginnt in einem „Flecken im Nirgendwo“, in einem Schuppen, eher einem Verschlag, der dem eingesperrten Albert durch zwei roh gezimmerte Holzlatten hindurch einen Ausblick gewährt. Ein Endspiel, eine Beckettsche Situation, nur dass sich Fatah, anders als Beckett, am real Existierenden orientiert. Die politischen, geografischen, gesellschaftlichen Fakten sind gegeben und wenn Albert träumt, fantasiert, wenn er in surreale Welten abdriftet, kommen ihm doch immer wieder gestochen scharfe Bilder von erschreckender Aktualität in den Sinn. Dann denkt sein Kopf, dass er demnächst abgeschnitten werden könnte und die entsprechende Szene aus der Wirklichkeit erscheint vor dem inneren Auge.
Das absolute Nichtverstehen
Albert und Osama werden zeitweilig zusammen gefangen gehalten, dann wieder getrennt, sie unternehmen, erfolglos, Fluchtversuche, werden gedemütigt, geschlagen, wie Vieh oder Ware behandelt und ganz selten mit schüchterner Freundlichkeit empfangen. Albert hat im Irak für ein Museum gearbeitet und sich unter anderem mit dem Auffinden oder Wiedererwerben gestohlener antiker Kunstgegenstände beschäftigt. Sein Uebersetzer war, bevor er es zum Dolmetscher brachte, auch ein Kunsträuber. Die beiden können miteinander reden, können sich verstehen, sind in einer Art Freundschaft miteinander verbunden. Aber eigentlich trennen sie Abgründe voneinander und es ist faszinierend mitzulesen, wie es Fatah gelingt, diese Eisbergsituation zu entwickeln, dieses bisschen Verstehen, dieses kleine Vertrauen über einem riesigen Block von tatsächlichem Nichtverstehen, Nichtvertrauen. Der irakische Muslim findet nichts, das ihm erklären könnte, was einen jungen Deutschen dazu drängt, in einem irakischen Museum zu arbeiten und er kann sich auf die Erzählungen aus Alberts DDR-Kindheit keinen Reim machen. Albert wiederum kapiert nichts von den komplexen Beziehungen die sein Freund mit Entführern oder Familie pflegt.
Offener Ausgang
Immerhin – die beiden tauschen sich aus, wobei gelegentlicher Galgenhumor die ansonsten durchwegs düstere Atmosphäre aufhellt. Zum übrigen Personal des Romans, gibt es vonseiten Alberts, der kein Arabisch spricht, null Kommunikation. Es gäbe sie auch bei besseren Sprachkenntnissen nicht, erklärt Osama und bringt das Verhältnis zwischen Entführern und andersgläubigen Entführten, aber auch die Beziehungen zwischen den einzelnen ethnischen und religiösen Gruppen im Irak auf eine einfache Formel: „Wenn sie denken hassen sie einander?“ fragt Albert. „Oh ja, sie haben dann Ueberzeugungen“, meint Osama. Den schon fast parodistisch überhöhten Gipfel absoluten Nichtverstehens erreicht der Autor, wenn er gegen Schluss seines Romans einen obskuren Emir im Kreise seiner Vertrauten auftreten lässt, der die beiden Entführten zuerst ausfragt und als er nicht die ihm passenden Antworten erhält, dazu übergeht, seine Opfer/Gäste mit Absurditäten zu belehren, von denen man nicht zu sagen wüsste, ob sie zum Lachen oder zum Weinen sind.
Ein offener Ausgang beendet den Roman; auf den Ort, an dem unsere beiden Antihelden zuletzt gefangen gehalten werden, wird ein Luftangriff geflogen – ob es den beiden gelingt, zu entkommen, die Seiten zu wechseln, bleibt ungesagt. Das passt zum fragmentarischen, finten- und überraschungsreichen Stil des Buchs. Die Reisen kreuz und quer durch armes oder verwüstetes Land suggerieren dem Leser ein Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gibt. Ungewiss ist alles, so die Botschaft, die einen aus all den Wendungen, die der Roman nimmt, förmlich anspringt. Das Endspiel aber, das bisschen Leben angesichts eines ständig drohenden Todes, dazu die Erinnerungen an Kindheit, an eine magersüchtige, rebellische Schwester, einen schwadronierenden Vater, das alles verpackt Sherko Fatah in Bilder, die man nicht vergisst. Expressiv, aber ohne falsches Pathos, intensiv, aber lakonisch, kräftig, dringlich wird dieser „letzte Ort“ beschrieben.