Kuriere jagten zwischen dem Hauptquartier und der Hauptstadt hin und her, und die Luft war dick mit Gerüchten und Drohungen. Kurz nachdem sich das Gros 350 Kilometer südlich von Delhi in Bewegung gesetzt hatte, war es zu einem ersten Marschstopp gekommen. Zwei Emissäre der Regierung trafen sich mit dem Kommandanten der rund 60‘000 Mann (und Frau) starken Truppe zum Verhandeln. Es kam zu keiner schriftlichen Einigung, und als der eine Gesandte der versammelten Menge zurief „Wir werden Eure Forderungen erfüllen! Jetzt geht nach Hause!“, hallte ihm ein vielstimmiges ‚‘Nein!‘ zurück.
Schüsse gab es keine zu hören, wie könnte es auch. Die einzige Bewaffnung dieser Armee bestand aus weiss-grünen Fahnen, und den schwieligen Füssen, die sie nach Delhi tragen würden. Und die Bereitschaft, drei Wochen Marsch in der brennenden Sonne und auf dem heissen Asphalt durchzuhalten. Es waren schliesslich Indiens Landlose und Stammesbewohner; sie sind sich Darben und Entbehrung gewohnt, und wohnen tun sie ohnehin meist unter offenem Himmel. Das Ziel dieses – gesitteten – Saubannerzugs war, Delhi endlich dazu zu bringen, ihnen mit einer Landreform mindestens ein taschentuchgrosses Stück Land zuzuteilen, auf dem sie leben können, ohne dass ihnen ständig Vertreibung droht.
Unterstützung auch aus der Schweiz
Ihr Feldherr, der Gandhianer P.V.Rajagopal, brauchte ebenfalls nicht eine Generalsuniform, sondern konnte sich mit Hemd, Hose und Sandalen in die erste Reihe stellen. Seine Autorität beruhte auf den zwanzig Jahren, in denen er sich nun für die Rechte der Landlosen eingesetzt hat; und auf den 60‘000 Kilometern, die er letztes Jahr zurückgelegt hat, als er kreuz und quer durch Indien reiste und die rund 18‘000 Organisationen und Dorfgemeinschaften seiner Bewegung ‚Ekta Parishad‘ zum ‚Dilli Chalo!‘ mobilisierte. Dass Rajagopal dennoch generalstabsmässig denkt und handelt, zeigen die zahlreichen Vereine in den westlichen Ländern, die Ekta Parishad seit vielen Jahren begleiten. Zu ihnen gehört auch der schweizerische Verein CESCI, der den Marsch nicht nur finanziell unterstützt, sondern auch logistischen Support für dieses Mammut- Unterfangen gibt.
Rajagopal hat bereits einmal einen solchen Marsch durchgeführt, im Jahre 2007. Er hatte ihn einiges gelernt, zum Beispiel, Versprechungen der Regierung zu misstrauen. Ich war damals dabei gewesen, als die vielen tausend Teilnehmer auf einem weiten Feld am Rand der Stadt Agra hoffnungsvoll ins Blau des Himmels schauten, aus dem gleich der Helikopter heruntergleiten würde, mit dem damaligen Minister für ländliche Entwicklung an Bord. Er sollte die frohe Botschaft des Premierministers bringen, wonach die Regierung ein Landreformgesetz in Angriff nehmen würde.
18 Millionen landlose Familien
Er war damals nicht gekommen, der Marsch endete zehn Tage später in Delhi, und dort versprach ihnen Manmohan Singh hoch und heilig, einen ‚National Council for Land Reforms‘ einzusetzen. Dieser sollte, mit ihm als Vorsitzendem, ein entsprechendes Gesetz vorbereiten. Der Rat trat in fünf Jahren kein einziges Mal zusammen. Das Bodengesetz, das schliesslich herauskam, versprach die Schaffung von privaten Industriezonen, die Kompensation von Bauern, das Verstaatlichungsrecht für ‚Projekte von nationaler Dringlichkeit‘. Doch auf ein Gesetz, das den achtzehn Millionen landlosen Familien (die städtischen Slums sind dabei nicht mitgezählt) ein Minimum an Lebensgarantie geben würde, wartete Rajagopal vergeblich.
Es war nichts Neues. Seit der Unabhängigkeit vor 65 Jahren steht eine Landreform auf dem Programm jeder Regierung. Sie wurde nur in zwei Bundesstaaten – den damals kommunistisch regierten Provinzen Westbengalen und Kerala – einigermassen anständig durchgeführt. Bei allen anderen begnügte man sich, eine Obergrenze von fünf Hektar landwirtschaftlichen Besitz festzulegen. Man tat aber nichts, wenn die Besitzer von ‚Überschuss-Land‘ dieses auf Frau und Kinder und Verwandte überschrieben, um der Enteignung zu entgehen. Der Staat weiss, wieviel ihm solches Land zur Verteilung an Landlose zur Verfügung steht (es sind 21 Millionen Hektar); aber nur 10 Prozent (2.7 Mio.ha) wurden bisher auch verteilt.
Nicht auf Versprechungen reinfallen
Ökonomen glauben, dass die fehlende Landreform der wichtigste Grund für Indiens anhaltende Armut ist, und sie verweisen auf die Staaten Ostasiens, wo Landreform neben Schulbildung die wichtigste Antriebskraft für die rasche Wohlstandsvermehrung wurde. Nur in den indischen Fünfjahresplänen taucht mit schöner Regelmässigkeit das Versprechen auf, jeder landlosen Familie mindestens 400 Qm. Land zum Wohnen zu überschreiben.
Diesmal, so schwor Rajagopal, würde er auf die Versprechungen der Politiker nicht hereinfallen. Er schickte Delhis Unterhändler wieder zurück und machte sich auf, das Lager in Agra – die Halbwegmarke – abzubrechen und weiter zu marschieren. Er hatte richtig kalkuliert. Manmohan Singhs Position ist heute schwächer als 2007. Die Regierungskoalition wackelt, wichtige Regionalwahlen, und in anderthalb Jahren ein nationaler Urnengang, stehen bevor. Die grassierende Korruption bringt auch die städtischen Mittelschichten in Rage, gerade angesichts der anhaltend chronischen Armut.
Skepsis trotz Unterschrift
Am Freitag kam wieder das Gerücht auf, Minister Jairam Ramesh sei auf dem Weg nach Agra. Diesmal traf der Helikopter ein. Statt den Demonstranten zuzurufen „Keine Sorge, geht nach Hause!‘ setzte er seine Unterschrift unter ein Dokument, das klare zeitliche Vorgaben gibt, um ein Landreformgesetz vor das Parlament zu bringen: Bereits am 17. Oktober tritt die Vorbereitungskommission zusammen, und in sechs Monaten soll ein erster Entwurf bereitliegen. Er wird nicht nur das minimale ‚Zehntel‘ für Landlose vorsehen, verbrieft und unkündbar, sondern auch eine verbesserte Durchsetzung der bestehenden Gesetze zugunsten armer Menschen.
Sie haben recht gelesen: Es gibt bereits Gesetze, um die Überlebenschancen der ländlichen Armen zu verbessern. Dazu gehört etwa das Gesetz zum Schutz der Urwaldbewohner von 2008. Zuvor wurden diese als illegale ‚Squatter‘ angesehen, wenn sie in den staatlichen Wäldern hausten, auch wenn sie dies seit Menschengedenken tun. Das neue Gesetz gab ihn dort nun ein Lebensrecht. Doch zuerst müssen sie beweisen, dass sie dort leben. Und da die meisten natürlich über keine Papiere verfügen, oder diese nicht lesen können, oder ohnehin in Stammesverbänden leben, wurden die meisten bisherigen Gesuche abgelehnt.
Wo ein Wille ist, ist ein Schlupfloch
Ein weiterer Grund für Skepsis ist die Tatsache, dass Bodengesetzgebung in die Kompetenz der Regionen fällt, und der Zentralstaat nur ‚Richtlinienkompetenz‘ hat. Es ist also gut möglich, dass das Parlament in Delhi scheinheilig ein Landreformgesetz verabschiedet, wohlwissend, dass die Bundesstaaten den Gesetzesvollzug auf die lange (Kommissions-)Bank schieben werden.
Wo ein Wille ist, möchte man Rajagopal zujubeln, ist auch ein Weg (nach Delhi)! Wo ein Wille ist, flüstern die Politiker, ist auch ein Schlupfloch.