Ich bin europhil, ein Anhänger der Einigung Europas und Verteidiger der EU. Ich bin auch ein Schweizer Patriot, stolz auf den einzigen Staat der Welt, der den Letztentscheid über seine Politik seinen Bürgern anvertraut. Wie reagiert ein europhiler Schweizer Patriot auf das Ja vom Sonntag?
Ein Hoch der Schweiz!
Die Schweizer Stimmbürger - 56 Prozent von ihnen, aber das reicht und wird respektiert - haben aus ihren Schweizer Gefühlen heraus Ja oder Nein gestimmt. Ihr Entscheid hat aber, was wohl keinen von ihnen bewusst war, ganz Europa aufgeschreckt! Mit diesem 0,3-Prozent-Ja zu einer Begrenzung der Einwanderung auch aus der EU sind wir von einem Tag auf den anderen nicht nur zum Thema sondern, was wir noch weniger ahnten, zum Mitspieler in der Debatte über Europa geworden, welche in den nächsten Jahren über Sein oder Nichtsein der EU entscheiden kann.
Ja? Ist es so schlimm? Vielleicht. Die in demokratischer Abstimmung entschiedene Pflicht der Schweiz zur Begrenzung der sonst überall in Europa geltenden Freizügigkeit reisst in der EU Gräben auf, welche sie in ein paar Jahren, wenn alles schlecht geht, auseinanderreissen können. Antieuropäische Parteien und Bewegungen weitherum, in England, Holland, Frankreich, Österreich, Bayern jubeln uns zu: Endlich wagt ein Volk, den Einmischungen der EU in unsere Länder zu widerstehen! Endlich traut sich jemand, die EU-Freizügigkeit und ihre unbegrenzte Einwanderung zu kritisieren und zu bremsen. Ein Hoch der Schweiz! Wir werden die Freizügigkeit in der EU so bekämpfen wie die Schweizer.
Diese Parteien werden angesichts der verbreiteten Anti-EU-Stimmung in der Wahl des Europäischen Parlaments im Mai grosse Fortschritte machen. Sie werden nicht eine Mehrheit erobern, aber alle traditionellen Parteien und Regierungen zur Anpassung an ihre anti-EU-Meinungen zwingen. Ein Hoch dem Land, welches seinem Volk erlaubt, Gefühle auszudrücken, welche Europas Führer negieren!
Ganz anderer Ton
Ganz anderer Ton bei diesen Führern, den demokratisch gewählten Regierenden und Parlamentariern, aus dem EU-Parlament, bei den Politikern und Regierungen und Ministern aller EU- und insbesondere unserer Nachbarländer, auch aus der Brüsseler Kommission und aus dem Ministerrat der EU, alle 28 Mitgliedländer einstimmig sogar mit Zustimmung des EU-kritischen Grossbritanniens: Nein zu jeder Einschränkung der gegenseitigen Freizügigkeit! Das von der Schweiz ausgehandelte Freizügigkeitsabkommen mit der EU ist ein rechtlicher Vertrag, den sie einhalten muss, ein Vertrag, welcher auch von einer Volksabstimmung nicht ausser Kraft gesetzt wird. Und diese Freizügigkeit der Arbeitnehmer ist einer der vier Grundpfeiler des EU-Binnenmarktes, den auch die Schweiz einschränkungslos akzeptieren muss, wenn sie weiterhin von ihm profitieren will.
Ist die EU in Gefahr?
In den Medien und anderen freien Meinungsäusserungen klingt es noch viel kritischer. Die Schweizer sind Egoisten, die sich von Europa, von der Zusammenarbeit aller andern Länder abschotten! Rosinenpicker! Sie wollen nur mitmachen, wo sie gewinnen, und ablehnen, was ihnen nicht passt! Entweder akzeptiert ihr alle im Binnenmarkt geltenden vier Freiheiten, auch die Freizügigkeit der Arbeitskräfte, oder dann verschliessen wir euch den Binnenmarkt.
Diese Meinungen äussern Gegensätze, welche bisher im Unterleib der EU schlummerten, welche aber die Schweizer Volksabstimmung in der EU plötzlich zur Explosion gebracht hat. Sie werden in Brüssel von jetzt an ein Konflikt- und Debattenthema sein so wichtig wie die Euro-Krise. Behält die EU ihre absolute Freizügigkeit? Würden ihre osteuropäischen Länder, deren grösster Trumpf ihre Arbeitskräfte sind, eine von den reicheren Westeuropäern durchgedrückte Reduktion dieser Freiheit akzeptieren? Würden sie aus der EU austreten?
Szenenwechsel zur Schweizer Innenpolitik
Zunächst völlig getrennt von diesen europaweiten Diskussionen zeigen sich auch bei uns schon erste harsche Gegensätze. Die EU-Kritiker der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz, die Auns, wollen die Abschottung von Europa noch weiter treiben: Sie bereiten eine Initiative vor, welche die bilateralen Abkommen durch ein “erweitertes Freihandelsabkommen“ ersetzen soll. Es ist unwahrscheinlich, dass die EU darauf eintreten wird, denn das würde heissen, der Schweizer Wirtschaft die undiskriminierte Teilnahme am EU-Binnenmarkt zu gewähren, ohne dass sie seine Grundprinzipien respektiert.
Aber das ist schon jetzt die Lage: Das verlangt schon die Verfassungsvorschrift gewordene SVP-Initiative, uns aus der vierten Freiheit des Binnenmarktes zu stehlen, der Freizügigkeit. Die Schweizer Wirtschaft wird bei ihrer Umsetzung und den Verhandlungen mit der EU versuchen, auf keinen Fall ihren undiskriminierten Zugang zum EU-Binnenmarkt aufs Spiel zu setzen. Das ist aber mit der Initiative unvereinbar, wenn ihre Forderungen, wie sie müssen, ernst genommen werden.
Die Zukunft Europas: Die Schweiz redet mit
Diese Schweiz-internen Diskussionen verschleiern jedoch das Faktum, dass wir zum Mitspieler in der Debatte um europäische Fragen, ja sogar um die Zukunft der EU geworden sind. Der Bundesrat will der EU einen Kompromiss weismachen, der sowohl das Freizügigkeitsabkommen wie die SVP-Initiative respektiert. Das scheint unmöglich, aber die Verhandlungen der nächsten drei Jahre sind unvorhersehbar.
Die Kompromissangebote und Unnachgiebigkeiten des Bundesrats werden in der EU jeden Tag die Kampflage der 28 Mitgliedstaaten zwischen kompromisslosen EU-Anhängern und jenen Opportunisten beeinflussen, die den Freizügkeits-Ausnahmen für die Schweiz geneigt sind, um hinterhältig die Kompetenzen der EU und ihre Einigungsfunktion zurückzuschrauben. Was auf die Länge zur Aushöhlung der EU als Garant des Friedens unter Europas einander seit Jahrtausenden bekriegenden Völkern führen kann.
Eine solche Rolle ist für uns völlig neu. Noch nie hat die Schweiz in einer grundsätzlichen Diskussion über Europas politische Grundlagen eine Rolle gespielt. Dass wir uns, dass wir den Bundesrat mit dem Ja zur beschränkten Freizügigkeit in eine solche Rolle katapultiert haben, ist wohl den wenigsten Schweizern klar. Es ist eine Revolution in unserem Verhältnis zu Europa, das wir bisher aus rein innenpolitischer Perspektive betrachtet haben. Wir werden das lernen müssen und hoffentlich lernen.
Ein P.S. des europhilen Schweizer Patrioten
PS. Die belgische Zeitung „La Derniere Heure“ hat den Schweizer Refüs der EU-Freizügigkeit mit einer Karikatur illustriert, welche zeigt, wie Wilhelm Tells Pfeil nicht den Apfel trifft, sondern den Kopf seines Walterli. Geschmacklos und ohne logische Verbindung mit dem Nein zur Freizügigkeit. Aber den Schweizer Patrioten Jörg Thalmann hat es ins Herz getroffen, dass uns jemand so sehen kann.