Offizielle russische Darstellungen der militärischen Intervention in Syrien dienen mindestens teilweise als propagandistische Verkleidung der wahren Vorhaben. Tatsache ist: Die Luftangriffe fanden an den Punkten statt, an denen das Asad-Regime am stärksten dem Druck der syrischen Aufständischen ausgesetzt ist: einerseits nordöstlich und südöstlich von Lattakiya, wo für Asad die Gefahr besteht, dass die Rebellen in das alawitische Herzgebiet am Mittelmeer einbrechen könnten, und andererseits in den Provinzen von Homs und Hama, wo das Regime Gefahr läuft, dass die Rebellen die Hauptachse Damaskus-Aleppo unterbrechen und sperren könnten. Dies, indem sie versuchen, von Osten her (Relaispunkt Palmyra) über diese syrische Nord-Süd-Achse hinweg nach Westen vorzudringen.
Die syrische Nord-Süd-Achse weist einen Seitenzweig auf, der von Homs aus nord-westlich an der libanesischen Nordgrenze vorbei in die Provinz Lattakiya führt, das heisst in das oben erwähnte alawitische Herzgebiet, in dem sich auch russische Marinebasis von Tartous befindet. Auch diese Abzweigung wäre gefährdet, wenn es den Rebellen gelänge, die Nord-Süd-Achse zu durchschneiden und damit Damaskus von seinem wichtigsten Hinterland in den nördlichen Hauptteilen Syriens abzutrennen.
Bomben gegen die Feinde Asads
Nach den propagandistisch gefärbten Aussagen der russischen Diplomatie wäre IS das Ziel der russischen Intervention. In Wirklichkeit geht es jedoch mindestens in einer ersten Phase darum, den militärischen Druck auf Asad zu vermindern, egal welche der Feinde Asads diesen Druck ausüben. IS-Einheiten befinden sich in der Tat östlich und westlich der Nord-Süd-Achse. Doch dies sind nur erste Vorhutelemente, die IS aus seinen Herzgebieten am Euphrat ausgesandt hat, um sich nach Westen hin auszudehnen. Mit den IS-Gruppen stehen andere Rebellengruppen im Felde, teils als lokale Verbündete, teils separat als Kämpfer auf parallelen Vorstössen. Sie befinden sich seit viel längerer Zeit im Raum von Homs und Hama als die Neuankömmlinge von IS.
Was den anderen Hauptangriffspunkt der Russen betrifft, jenen nordöstlich von Lattakiya, so ist die dort vorherrschende Rebellengruppe die Nusra-Front. Sie beherrscht die Provinz Idlib zusammen mit zahlreichen verbündeten Gruppen. Im Nordosten der Idlib-Provinz liegt die Ortschaft Jisr al-Schogur, von der aus eine Strasse nach Lattakiya hinunter führt. Diese Stadt, ihre Umgebung und der nahe liegende Militärflugplatz waren und sind weiterhin besonders umkämpft, weil die Macht, welche diese Zone beherrscht, unmittelbar die Provinz und die Hafenstadt Lattakiya bedroht.
Vor dem russischen Eingriff an dieser Stelle verloren die Kräfte der Asad-Armee und ihrer Hilfsmilizen an diesen neuralgischen Punkten schrittweise Gelände. Ob die russischen Bombardierungen die dortige Lage grundlegend werden verändern können, bleibt abzuwarten. Mit Sicherheit werden sie den dortigen Rebelleneinheiten, Nusra und anderen, ein Vordringen sehr erschweren.
Überall «Terroristen»
Die russische Propaganda profitiert von dem Umstand, dass es kleinere Gruppen von IS an einigen dieser kritischen Kampffronten tatsächlich gibt. Die Russen können daher behaupten, ihre Eingriffe seien gegen IS gerichtet. Sie profitieren dabei auch von der Unbestimmtheit des Begriffs Terroristen, der heute – weitgehend dank des amerikanischen Sprachgebrauchs – soweit zerredet ist, dass jedermann seine Feinde als Terroristen bezeichnet nach dem Muster: Terrorist ist jeder, der mir nicht gefällt.
Nusra ist bekanntlich ein Zweig von al-Kaida und kann daher – auch bei präziserem Sprachgebrauch – als terroristisch gelten. Die Amerikaner haben gelegentlich die von ihnen als Khorasan-Gruppe bezeichneten Teile von Nusra bombardiert, weil auch sie die Nusra-Front als terroristisch einstufen.
Gemeinsame Einsätze mit Nusra und IS
In Idlib wirkt Nusra in enger Verbindung mit anderen, teils ebenfalls «islamistischen», teils etwas mehr «säkularen» Gruppierungen. Deren zahlenmässig gewichtigste ist Dschaisch al-Islam (Islamisches Heer), das dem Vernehmen nach in erster Linie von Saudi-Arabien finanziert wird. Es soll in den nördlichen Bezirken der Provinz Idlib auch Gruppen geben, die als genügend «gemässigt» eingestuft wurden, um amerikanische Unterstützung zu erhalten. Auch dabei gibt es Nuancen, denn es gibt jene Gruppen, denen die CIA im Verborgenen hilft, was offiziell dementiert werden kann, und jene, die offiziell von den Amerikanern in der Türkei ausgehoben, auf Herz und Nieren geprüft, bewaffnet, ausgebildet und unterstützt werden. Gerade sie haben sich als die unzuverlässigsten und am wenigsten kampfeswilligen Gruppen erwiesen.
Von diesen Kleingruppen aus Idlib und aus der Homs-Provinz melden die sogenannten Soqur al-Jabal (Bergfalken), sie seien von den Russen angegriffen worden. Eines ihrer Ausbildungslager in Idlib sei in zwei verschiedenen Attacken mit etwa zwanzig Raketen beschossen worden. Einer ihrer Anführer, Kommandant Hassan Haj Ali, sei gefallen.
Auch die FSA (Freie Syrische Armee) meldet den Tod eines ihrer Kommandanten, Iyad ad-Deek, in der Provinz Homs. Diese beiden Formationen werden zu denjenigen gerechnet, die von den Amerikanern inoffiziell unterstützt werden. Angesichts all dieser Schattierungen und Übergänge ist es für die Russen leicht, sich beim «Kampf gegen IS und andere Terroristen» gerade jene Gruppierungen vorzunehmen, die für das Asad-Regime im Augenblick die gefährlichsten sind. Was gelegentliche Angriffe auf das Herzgebiet von IS am Euphrat – zwecks Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit des behaupteten Kampfes gegen IS – nicht ausschliesst.
Die syrische Armee liefert die «Stiefel»
Wenn man die möglichen Wirkungen der nun schon über ein Jahr lang andauernden Luftangriffe der Amerikaner und ihrer westlichen und arabischen Koalition mit denen der russischen Luft-Interventionen vergleicht, gibt es einen entscheidenden Unterschied. Den Amerikanern fehlt es an brauchbaren Verbündeten im Gelände, welche die Wirkung der Luftschläge so auszunützen, dass Geländegewinne resultieren. Nur gerade die irakischen und die syrischen Kurden sind in dieser Hinsicht verwendbar, und sie haben ihre eigenen politischen Ziele. Dieser Umstand beschränkt den amerikanischen Einsatz auf die Gebiete, die mehrheitlich oder ausschliesslich von Kurden bewohnt sind. Kurz gesagt: «Den Amerikanern fehlen die Stiefel».
Nicht so bei den Russen, denn sie haben «Stiefel», die ihnen zur Verfügung stehen und dazu gebraucht werden können, den Effekt ihrer Luftschläge in Geländegewinne umzumünzen. Die Stiefel sind diejenigen der alawitisch gesteuerten und kontrollierten Armee des Asad-Regimes.
Mit den Interventionen der Russen beginnt eine neue Phase im syrischen Bürgerkrieg. Es wird nun darum gehen, ob die Asad-Streitkräfte und Hilfsmilizen in Zusammenarbeit mit den russischen Kampfflugzeugen die Rebellion zurückdrängen können. Es ist nur eine Frage der Propaganda, ob diese Rebellion insgesamt als terroristisch bezeichnet wird – Asad tut dies seit viereinhalb Jahren – oder ob man sogar behauptet, sie sei «praktisch ohnehin IS», oder doch «hauptsächlich IS». Immer ergibt sich daraus: Wenn man gegen Rebellen kämpft, kämpft man gegen IS. In Wahrheit geht es offensichtlich um etwas anderes, nämlich: Wo die Rebellion für das Regime am gefährlichsten ist, dort greift die russische Luftwaffe ein, um den Truppen Asads zu helfen.
Man kann sagen, dass Putin mit seiner Luftwaffe das tut, was auch Erdogan mit den türkischen Luftstreitkräften macht. Beide sagen, sie wollten gegen IS vorgehen. Doch in Wirklichkeit gehen sie in erster Linie gegen diejenigen Feinde vor, die sie als erste zerstören möchten: Erdogan gegen die PKK, Putin gegen die syrischen Rebellen, die Asad bedrängen.