Das Regime von Syriens Präsident Bashshār al-Asad hat bislang dank der iranischen und russischen Militärhilfe den Krieg überdauern können. Doch könnte das Regime unverhofft vor dem Aus stehen. Nicht Kriege oder auswärtiger Druck gefährden aktuell die Macht von al-Asad und seinen Unterstützern, sondern hausgemachte ökonomische und soziale Probleme. Der Zwist zwischen dem Präsidenten und seinem Cousin, dem Milliardär Rāmī Makhlūf, ist nur die Spitze des Eisbergs. Hinter dem Zwist verbirgt sich eine massive Wirtschaftskrise, die durch das Missmanagement des Regimes ausgelöst wurde. Dem Regime sind die Devisen ausgegangen, die Lebensmittelpreise sind sprunghaft gestiegen, Demonstranten melden sich auf der Strasse zu Wort, und Russland erwartet eine Rückzahlung der Schulden. Ist das der Anfang vom Ende des Regimes?
Wirtschaftsdesaster
Die bestehende Verbindung zwischen der libanesischen und der syrischen Wirtschaft bedeutet für beide Länder eine Katastrophe. Die libanesische Wirtschaft, die durch einen 10-Mrd.-Dollar-Kredit des IMF vor dem Kollaps bewahrt werden soll, hat sich inzwischen weitgehend vom syrischen Markt losgesagt. Die USA werden darauf beharren, dass, um an die IMF-Kredite zu gelangen, die libanesische Regierung die Grenzen nach Syrien schliessen müsse. Dies würde die Regierung in Beirut wohl kaum garantieren können. Die Auswirkungen auf die militärische Präsenz des Hizbollah würden sich unmittelbar zeigen.
Syrien sind so die Devisen ausgegangen. Ausländische Produkte werden im Land fast nur noch in Dollar gehandelt, doch kaum jemand verfügt noch über Dollar. So leidet nicht nur die breite Bevölkerung, sondern diesmal sind auch die Angehörigen der privilegierten Oberschicht und der Staatseliten betroffen.
Das klamme Regime beginnt sich nun sogar selbst zu demontieren. Rāmī Makhlūfs Wirtschaftsimperium, das durch seine Steuern etwa 60 bis 70 Prozent der Staatsausgaben finanziert haben soll, wurde vom Regime kurzerhand beschlagnahmt, um ausstehende Steuern und Gebühren abzukassieren. Makhlūf, der selbst in einer seiner Villen unter Hausarrest steht, wagte sich aus der Deckung und ging mit einer medial wohlinszenierten Klage an die Weltöffentlichkeit. Doch seine Söhne, die in den Vereinigten Arabischen Emiraten leben und dort ihren Reichtum zur Schau stellen, haben das Image der Familie in Syrien weitgehend zerstört.
Die Millionen, deren das Regime habhaft werden kann, werden kaum reichen, die Ausgaben für die staatlichen Grundaufgaben zu begleichen, von einem Bedienen der Schulden gar nicht zu reden. Syrien wird damit für die auswärtigen Unterstützer zum Fass ohne Boden. Es verwundert nicht, dass Iran einen Teil seiner «Schutztruppen» abzieht und dass Russland deutlich von dem Regime in Damaskus abrückt. Offenbar ist Russland nun bestrebt, einen Verständigungsfrieden mit jenen Rebellen zu schliessen, die unter türkischer Oberhoheit stehen. Er soll es Russland ermöglichen, seine ökonomischen und strategischen Interessen in Syrien auch durch eine dauerhafte militärische Präsenz, aber ohne den teuren Krieg zu wahren. Dazu gehört ein wichtiger Anteil an den erhofften Geschäften mit der Erdgas- und Erdölförderung im östlichen Mittelmeer.
Der massive Preiseinbruch für Erdöl zwingt Iran und Russland zum Haushalten bei ihren militärischen Interventionen. Für Iran bedeutet dies, seine strategischen Interessen stärker auf den Irak auszurichten, und auch die neue irakische Regierung scheint Gefallen an der Verbesserung der Beziehungen zu Russland zu finden. Und Iran, das sich jüngst wieder auf den Palästina-Konflikt konzentriert, scheint von der alten Idee Abstand zu nehmen, dass die Befreiung Palästinas über die syrischen Autobahnen führe.
Abrücken von al-Asad
Die russische Presse weist inzwischen unverhohlen al-Asad die Schuld an dem ökonomischen Desaster zu. Selbst in den traditionellen Hochburgen des Regimes wächst der Unmut. In dem Hauptort des Drusengebiets al-Suwaydā᾽ mehren sich Demonstrationen, für die mit der Parole «Wir wollen in Ehre leben» oder schlicht «Wir wollen leben» geworben wird. Die Demonstranten machen darauf aufmerksam, dass das Land kurz vor einer grossen Hungersnot steht. Und als ob dies noch nicht genug wäre: Mehr und mehr Felder, die demnächst abgeerntet werden sollten, werden in Flammen gesetzt. Wer die Ernte vernichtet, ist oft unklar. Das Regime macht den sogenannten «Islamischen Staat» verantwortlich, den es eigentlich besiegt haben will.
Die Glaubwürdigkeit des Regimes ist an einem Nullpunkt angelangt. Tausende von syrischen Angestellte, Arbeiterinnen und Arbeitern sind in Maklūfs Betrieben beschäftigt. Die Beschlagnahme des Makhlūfschen Vermögens bedroht ihre Existenz unmittelbar. Und im Hintergrund stehen noch die Angehörigen der von Makhlūf gegründeten Tiger-Miliz, die angeblich schon im August 2019 ins syrische Militär integriert worden sein soll. Doch sind hier Zweifel angebracht. Makhlūf, glühender Anhänger der 1932 von Antūn Saʿāda gegründeten Syrischen Sozialnationalistischen Partei (SSNP), hatte seine Parteifreunde mit lukrativen Privilegien ausstatten können. So wurde der derzeitige Parteivorsitzende, ʿAlī Haydar, 2012 zum «Versöhnungsminister» ernannt und gleichzeitig mit der Rolle eines systemkonformen Oppositionellen betraut. Die jüngsten Massnahmen der Regierung gegen Makhlūf haben die radikalnationalistische SSNP damit faktisch ausgeschaltet. Ob sich die alten Kader mit dem Machtverlust abfinden werden, ist eher unwahrscheinlich.
Corona in Syrien
Der Umgang des Regimes mit der Coronakrise befeuert nur noch den Vertrauensverlust. Die Regierung gab bekannt, dass bis zum 26. Mai 2020 vier Menschen an den Folgen einer Corona-Infektion verstorben seien, von den 121 Infizierten seien 41 Menschen wieder genesen. Damit würde ausgerechnet nur das Kriegsland Libyen etwas niedrigere Zahlen aufweisen. Angesichts der Tatsache, dass der Nahe Osten inzwischen zu einem Hotspot der Infektion geworden ist, dass im kleinen Nachbarland Libanon eine mindestens zehnmal höhere Infektionsrate angegeben wird und dass Iran offen den Teilrückzug seiner Truppen mit der Ausbreitung des Coronavirus begründet, besteht für viele Menschen in Syrien kein Zweifel daran, dass sie vom Regime belogen werden.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Regime die Auswirkungen der Pandemie nicht mehr vertuschen kann. In anderen Ländern hat das Krisenregime zumindest anfänglich zu einem Vertrauensgewinn des Staats und seiner Organe geführt. Selbst in Saudi-Arabien, schwer von der Pandemie getroffen, wuchs die Zustimmung zum Krisenregime. Doch in Syrien dürfte dieser Effekt kaum eintreten. Die Gleichzeitigkeit von wirtschaftlicher und sozialer Not und der Bedrohung durch die Pandemie wird eher dazu führen, dass sich viele bisherige Unterstützer vom Regime abwenden werden. Unbeantwortet ist die Frage, an wen sie sich dann in ihrer Not wenden werden. Vielleicht werden die Reste der zivilgesellschaftlichen Ordnung an Vertrauen gewinnen, da in vielen syrischen Städten das Krisenregime letzten Endes auf ihnen ruhen wird.
Und weiter?
Die militärische Lage des Regimes hat sich kaum verändert. Die russisch-türkischen Patrouillen scheinen zu funktionieren, die sogenannte Syrisch-Arabische Armee des Regimes in Damaskus beschiesst weiterhin Dörfer im Süden der Provinz Idlib mit Artillerie, ohne dass eine Strategie erkennbar wäre. Das Regime wird also erst einmal nicht mit einem Propagandaerfolg rechnen können wie bei der Eroberung der Trümmerwüste von Aleppo im Dezmber 2016.
Die Zukunft des Regimes wird auch nicht in Idlib entschieden. Eher wahrscheinlich ist, dass das Regime schlicht implodiert. Dies würde geschehen, wenn das Militär oder Teile des Militärs meutern, weil sich ihnen und ihren Familien kein anderer Ausweg aus der Not zeigt. Oder Russland könnte den Druck so erhöhen, dass die Familie al-Asad das Land verlässt, dann wohl in Richtung Vereinigte Arabische Emirate. Schon mehrfach hatte es Gerüchte gegeben, die Emirate hätten der Familie Asyl angeboten.
Wen Russland dann als Satrap, als «Schützer der Herrschaft», einsetzen würde, ist unklar. Gewiss gibt es in Damaskus schon ein Rennen um die beste Ausgangsposition in diesem Wettbewerb. Eine wenig wahrscheinliche, aber nicht auszuschliessende Möglichkeit wäre die Reaktivierung zivilgesellschaftlicher politischer Organisationen, die von Russland im Verbund mit westlichen Staaten als vertrauenswürdige Partner anerkannt und als Mitglieder einer Expertenregierung ernannt würden. Diese würde dann Verhandlungen mit der Opposition in Idlib und gegebenenfalls sogar den Machthabern von Rojava im Nordosten des Landes führen. So oder so ist es höchst unwahrscheinlich, dass das Regime von al-Asad diese Krise überstehen wird.