Zuletzt habe ich ihn im vergangenen September im Hotel Waldhaus in Sils Maria getroffen. In den Hotelgängen und auf der herbstlichen Terrasse bewegte er sich gebeugter als früher und mit Hilfe eines Rolators. Aber beim Kaffeegespräch war der bald 90-jährige Fritz Stern hellwach und hielt mit seinen pointierten Meinungen zum aktuellen politischen Geschehen nicht hinter dem Berg. Donald Trump, dem damals noch kaum jemand zutraute, dass er es zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten bringen könnte, nannte er „ein Beispiel öffentlicher Verdummung“.
Kritische Liebe zu Amerika
Aber auch für Hillary Clinton konnte er sich nicht erwärmen, obwohl er zeitlebens die demokratische Partei gewählt hatte. Sie habe zu wenig Distanz zu wirtschaftlichen Interessegruppen, kritisierte er. Dieses „plutokratisch Element“ missfalle ihm sehr. Vorerst setze er seine Hoffnungen auf den unkonventionellen Linken Bernie Sanders. Er räumte aber ein, dass er am Ende und contre coeur vielleicht doch für Frau Clinton stimmen müsse, wenn sie tatsächlich zur Präsidentschaftskandidatin nominiert werde. Nun ist Fritz Stern dieses Dilemma erspart geblieben.
Bei aller mitunter scharfen Kritik an manchen Entwicklungen in Amerika – er hielt den von Präsident Bush junior kurzsichtig durchgezwängten Einmarsch in Irak von Anfang an für ein Verhängnis und beklagte ein „absolutes Versagen der Diplomatie“ – hat Fritz Stern nie seine Liebe und tiefe Dankbarkeit für dieses Land, das ihm zur neuen Heimat wurde, verschwiegen.
1938 war er dort mit als 12-Jähriger auf der Flucht aus Nazi-Deutschland angekommen – im gleichen Jahr wie der drei Jahre ältere Henry Kissinger, der mit seiner Familie aus dem bayerischen Fürth emigriert war. Obwohl die ursprünglich jüdische Ärztefamilie schon seit mehr als einer Generation zum Lutherischen Glauben konvertiert war, wurden die Sterns vor der Repression des Nazi-Regimes nicht verschont.
Manhattan und Sils Maria
Fritz Stern war auch mit der Schweiz enger verbunden. Schon als Vierjähriger war er 1930 mit seinen Eltern aus dem damaligen Breslau (heute polnisch Wroclaw) ins Engadin in die Ferien gereist. Seine erste Reise zurück nach Europa, fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, führte ihn neben andern Destinationen auch nach Zürich. Dort habe er, so erzählte er gerne, in einer Buchhandlung ein schmales Büchlein des grossen niederländischen Historikers Johan Huizinga mit dem Titel „Mein Weg zur Geschichte“ erstanden.
Es beeinflusste ihn tief in seinem geschichtlichen Denken und habe ihn bestärkt in seiner damals noch ungefestigten Meinung, dass „das Wissenschaftliche mit Literatur, ja mit einer gewissen Phantasie verbunden sein muss“. In dieser Ansicht stimmte er mit andern berühmten Historikern wie Golo Mann oder Friedrich Schiller überein.
Seit Jahrzehnten hat Fritz Stern praktisch jedes Jahr längere oder kürzere Ferien im Engadin verbracht. Als ihm die „Frankfurter Allgemeine“ einmal den berühmt gewordenen Fragebogen von Marcel Proust vorlegte, hatte er zur Frage, wo er am liebsten in der Welt wohnen möchte, folgende Antwort eingetragen: „Manhattan und Sils Maria“.
Bismarck und Merkel
Sein grosses historisches Thema aber war Deutschland, das Land seiner Muttersprache, aus dem er als Kind vertrieben worden war. Sein Opus Magnum trägt den Titel „Gold und Eisen“ (erschienen 1976) und durchleuchtet die eigenartige, zuvor wenig bekannte Beziehung zwischen Bismarck und seinem jüdischen Bankier Gerson Bleichröder. In einem Interview in der „Zeit“ zu diesem Werk wurde Stern vor zwei Jahren gefragt, was man denn aus der Geschichte des deutschen Kaiserreichs lernen könne. Seine Antwort: „Den Feind nicht zu demütigen, ihn sein Gesicht wahren zu lassen, keine Türen für immer zu schliessen, in der Aussenpolitik wie auch in der Innenpolitik. Ich glaube, das hält auch Frau Merkel so.“
Deutschland ist auch das grosse Thema seiner persönlichen Erinnerungen unter dem Titel „Fünf Deutschland und ein Leben“ (2007). Er beschreibt und analysiert die fünf verschiedenen Deutschland, die er in seinem Leben miterlebt hat: Die Weimarer Republik, das „Dritte Reich“, die Bundesrepublik und die DDR, das vereinigte Deutschland.
Über historisches Denken
1999 ist Fritz Stern mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. In seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche plädierte er eindringlich für sorgfältiges historisches Denken und warnte vor der Versuchung vorschneller Besserwisserei und moralischer Überheblichkeit: „Jedes Urteil muss berücksichtigen, was die Menschen zu der gegebenen Zeit wussten, nie vergessend, dass sie ihre eigene Zukunft, die wir kennen, bestimmt nicht kannten. Sie lebten in einer anderen Welt, mit anderer Mentalität, anderer politischer Kultur.“
Mit dem früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt hat Fritz Stern vor sechs Jahren ein überaus anregendes, sich über drei Tage hinziehendes Gespräch über ihre – zum Teil sehr unterschiedlichen – persönlichen und politischen Lebenserfahrungen geführt. Der hellwache Dialog zwischen den beiden Altmeistern des politischen Geschäfts und der historischen Betrachtung ist unter dem Titel „Unser Jahrhundert“ erschienen.
"And miles to go before I sleep"
Am Ende des Gesprächs fragt Schmidt sein Gegenüber, wer eigentlich der Autor der folgenden anrührenden Gedichtzeilen sei:
The woods are lovely, dark and deep/ But I have promises to keep/ And miles to go before I sleep/ And miles to go before I sleep
Stern antwortet, das sei der grosse amerikanische Dichter Robert Frost.
Helmut Schmidt ist im vergangen Herbst 97-jährig verstorben. Jetzt hat auch der um sieben Jahre jüngere Fritz Stern die letzte Meile seines Erdenlebens zurückgelegt.