Soeben hat AIPAC mit 13 000 Delegierten seine Jahresversammung in Washington abgehalten. AIPAC ist die Abkürzung für "American Israel Public Affairs Committee". Unter diesem Namen funktioniert die stärkste Pro-Israel-Lobby in den Vereingten Staaten, deren Einfluss schlechterdings legendär genannt werden kann. Die 130 000 Delegierten sollten, "die gemeinsamen Werte und die gemeinsame Vision Israels und Amerikas feiern".
Ein Forum für Kriegsdiskussionen
Die Versammlung von AIPAC stand dieses Jahr ganz im Zeichen der Notwendigkeit eines Angriffskrieges, vornehmer ausgedrückt "Präventivkrieges", gegen Iran. AIPAC sucht mit allen Mitteln der Propaganda deutlich zu machen, dass Israel durch eine nach AIPAC gewissermassen beinahe bestehende iranische Atombombe "existenziell" gefährdet sei. Der erste Sprecher in der Versammlung erklärte: "Iran ist auf dem Marsch zu einer Atombombe".
Obama und Netanyahu vor der AIPAC
Am vergangenen Sonntag hat Präsident Obama vor AIPAC gesprochen, am Tag darauf Ministerpräsident Netanyahu. Die beiden haben sich darauf zu einem privaten Gespräch getroffen, dem eine Pressekonferenz folgte. Immer ging es primär um Iran und um die Frage eines Präventivkrieges gegen Iran, sowie darum, wer diesen führen solle, Israel allein oder Israel mit Amerika. Was die beiden Staatsmänner privatim miteinander gesprochen haben, weiss man nicht. Doch aus ihren Reden vor AIPAC und ihrer gemeinsamen Pressekonferenz lässt sich erkennen, welche die Grundhaltungen der beiden sind. Man kann diese auf die Frage der Roten Linie zuspitzen.
Beide sagen, sie würden militärisch einschreiten, wenn es kein anderes Mittel mehr gäbe, Iran davon abzuhalten, eine Atombombe zu bauen. Beide sind der Ansicht, dass man hoffen könne, andere Mittel könnten Iran noch davon abbringen. Diese wären diplomatischer und wirtschaftlicher Druck, der wirtschaftliche durch immer härtere Sanktionen gegen Teheran.
Iran streitet alle Atombomben-Pläne ab
Teheran besteht seinerseits immer noch höchst energisch darauf, dass es keine Atombombe baue. Eine solche zu besitzen, so erklärte wiederholt und auch jüngst noch erneut Khamenei, die höchste theologische und politische Autorität des Landes, sei "eine Sünde".
Die Inspektoren der Internationalen Atomenergie Agentur (IAEA) erklären, sie hätten ernsthafte Bedenken gegenüber bestimmten iranischen Aktivitäten, die sie nicht kontrollieren konnten. Eine Gewissheit darüber, dass Iran an einer Atombombe arbeite, haben sie nicht. Doch dass dies trotz allen iranischen Dementis dennoch der Fall sein könnte, lässt sich nicht ausschliessen.
Werden die Sanktionen wirken?
Unter diesen Umständen ist die entscheidende Frage, wo liegt die Rote Linie, deren Überschreiten einen Präventivkrieg auslösen muss. Hier gehen die Ansichten auseinander. Für Obama und die amerikanische Regierung liegt diese Linie noch in einiger Zukunft, nämlich zu dem Zeitpunkt, in dem klar würde, dass Iran durch andere als militärische Mittel von seiner Urananreicherung nicht abgebracht werden kann. Dieser Punkt ist nach Obamas Einschätzung noch nicht erreicht. Noch besteht einige Hoffnung, dass die Sanktionen Iran von seinem jetzigen Kurs abbringen könnten.
Diese Sanktionen müssten sich auswirken, dazu brauche es Zeit, so lautet das entscheidende amerikanische Argument. In der Tat sind gewisse, einschneidende Wirtschaftsmassnahmen gegen Iran erst beschlossen, sollen jedoch schrittweise im Verlauf dieses Sommers in Kraft treten. Dazu gehört der Beschluss der Europäischen Staaten, kein Erdöl mehr aus Iran zu importieren.
Die Zentrifugen drehen sich in Iran
Man muss allerdings auch sehen, dass es bisher in Iran keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass die Anreicherungspolitik aufgegeben werden könnte. Die iranische offizielle Linie lautet weiter unverrückbar: Wir haben ein Recht auf Anreicherung niedrigen Grades, soweit dies für den Betrieb von atomaren Elektrizitätswerken und für den Betrieb unseres kleinen Versuchsreaktoren notwendig ist, welcher der Produktion von angereichertem Uranium für medizinische Zwecke dient.
Für die Elektrizitätswerke, wie Iran eines mit russischer Hilfe in Bandar Abbas betreibt, braucht man 5 Prozent Anreicherung, für die Strahlungsmedizin 20 Prozent, für die Herstellung von Atomwaffen 95 Proznt. Doch die Methoden der Anreicherung, wenn sie durch Zentrifugen bewerkstelligt wird, sind immer die gleichen. Die Zentrifugen müssen sich weiter drehen, bis sie höhere Grade der Anreicherung erreichen. Dies geht umso rascher, je mehr Zentrifugen eingesetzt werden. Es braucht jedenfalls in der Praxis mehrere Tausend davon.
Dass Zentrifugen sich in Iran drehen, steht ausser Zweifel und wird auch nicht von der Regierung bestritten. Aufgabe der IAEA wäre, sicher zu stellen, wieviel Anreicherung betrieben wird, und wie viel, wie weit angereichertes Uranium bereits vorhanden ist. Die Agentur möchte aber auch in Erfahrung bringen, ob Iran andere technische Vorbereitungen trifft und Versuche durchführt, die notwendig wären, um aus zu 95 Prozent angereichertem Uranium atomare Sprengköpfe herzustellen und um diese durch Raketen oder Flugzeuge einzusetzen.
"Keinerlei Anreicherung", fordern die USA
Ob all dies angestrebt wird oder nicht, ist nach den Aussagen Obamas und seiner Fachleute nicht die Rote Linie für die USA, sondern vielmehr, ob Iran durch Diplomatie und Wirtschaftsdruck dazu gebracht werden kann, seine Anreicherung überhaupt einzustellen. - Anreicherung jedoch ist in iranischen Augen ein Recht Teherans. Der Atomsperrvertrag, den Iran zur Zeit des Schahs unterschrieben hat und der seither nicht gekündigt wurde, erlaubt Anreicherung niedrigen Grades für industrielle Zwecke.
Bisher hat Iran eisern auf diesem Recht bestanden. Die iranischen Sprecher erklären, sie wollten es ausüben, weil ihr Land die wissenschaftliche und technische Erfahrung gewinnen wolle, die notwendig sei, um eigene atomare Elektrizitätswerke zu betreiben und mit Brennstoff zu versorgen, sowie überhaupt die Technik der Atomindustrie zu meistern. Dies, so erklären sie vor den internationalen Foren und auch ihrer eigenen Bevölkerung, sei Irans gutes Recht.
Die Kriterien Israels
Israel jedoch zieht die Rote Linie anders als die Obama-Administration. Nach Israel ist die Rote Linie erreicht, sobald Iran angereichertes Material in genügender Menge gespeichert habe, um es zu einer Atombombe weiter zu verarbeiten und/oder sobald Iran seine Anreicherungszentrifugen so tief unter der Erde und in den Gebirgen vergraben habe, dass diese gegen Bombenangriffe geschützt wären.
Israel behauptet in seinen öffentlichen Aussagen, dieser Zeitpunkt stehe "nahe" bevor. "Vielleicht" sei er schon diesen Sommer oder Herbst erreicht.
Es ist natürlich sehr schwierig, diesen Zeitpunkt genau zu bestimmen. Ohne Zweifel versuchen die israelischen Geheimdienste und ihre Fachleute dies. Doch welchen Zeitpunkt sie gegenwärtig mit welchem Grad von Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit ansetzen, weiss die Aussenwelt nicht. Auch das israelische Publikum bleibt im Dunkel. Die Aussenwelt in Israel und im Ausland kennt nur die offiziellen Aussagen, welche möglicherweise zu politischen Zwecken "gefärbt" werden, um je nach Opportunität die Lage als gefährlicher oder als "noch" nicht ganz so gefährlich erscheinen zu lassen.
"Noch zu früh" für Obama
In seiner Rede vor AIPAC hat Obama gesagt "Ich bitte, dass wir alle uns an die schwere Bedeutung dieser Angelegenheiten erinnern, an die Risiken, die für Israel, für Amerika und für die Welt bestehen. In den letzten Wochen hat es bereits zu viele lockere Reden von Krieg gegeben".
Um diese sehr milde formulierte Kritik auszugleichen, hat der amerikanische Präsident auch mit allem denkbaren Nachdruck erklärt, die USA stehe hinter Israel. Sein Land sei bereit, "alle" nötigen Massnahmen zu ergreifen, um Iran von weiterer Anreicherung abzuhalten. Er fügte hinzu: "Die Führung Irans sollte wissen, dass ich nicht eine Politik der Eindämmung (containment) führe. Meine Politik ist, Iran daran zu verhindern, dass es Nuklearwaffen erhält". Doch weiterhin, so erklärte er auch, bestehe noch Hoffnung, dass dies durch diplomatische und Boykottmassnahmen bewirkt werden könne. "Jetzt ist die Zeit," unterstrich er, " unseren gesteigerten Druck einwirken zu lassen und die weite internationale Koalition, die wir geschmiedet haben, zusammenzuhalten."
Wann kommt der Krieg?
Um es ganz klar zu machen: die Rote Linie für Israel wäre, nach israelischen Aussagen, der Moment bevor Iran seine Nuklearanlagen bombensicher zu schützen vermag oder der Augenblick, in dem Iran genügend angereichertes Uran besitzt, um damit eine Bombe zu bauen.
Für die Vereinigten Staaten jedoch der Augenblick, in dem völlig klar wird, dass diplomatische und Boykottaktionen nicht bewirken können, dass Iran auf sein verbrieftes Recht, Uran anzureichern, verzichtet.
Natürlich sind beide "Augenblicke" durch die Einschätzungen gegeben, welche die zuständigen Stellen entwickeln und auch möglicherweise von Zeit zu Zeit neu überprüfen und im Licht neuer Informationen revidieren können. Einschätzungen sind keine Messungen. Sie enthalten ein grösseres oder kleineres Mass an Subjektivität. Sie können gänzlich verkehrt sein oder sogar absichtlich entstellt werden, wie etwa jene, die zum amerikanischen Krieg gegen den Irak geführt hatten.
Kompromissmöglichkeiten
Die skizzierten Positionen sind die öffentlich dargelegten beider Seiten. Wenn die beiden miteinander sprechen oder verhandeln, kann es zu Kompromissen kommen. Ein denkbarer Kompromiss zwischen Obama und Netanyahu könnte auf eine Zusage Netanyahus hinauslaufen. mit dem israelischen Präventivschlag zuzuwarten, gegen eine Zusicherung der Vereinigten Staaten den Präventivkrieg (voll oder teilweise?) mitzutragen, sobald das amerikanische Kriterium erfüllt wäre. Das heisst, sobald klar geworden wäre, dass Iran sich nicht zu einer Einstellung seiner Anreicherungsaktivitäten bewegen lasse.
Sogar wenn ein derartiger Kompromiss zustande käme, bliebe freilich die Frage: wer bestimmt, dass Diplomatie und Boykott endgültig nicht zu wirken vermögen? Israel oder Amerika? Ob es zu solchen Abmachungen kommen kann, ist völlig ungewiss. Denkbar ist auch, dass das geringe Vertrauen, das zwischen den beiden Politikern besteht, alle denkbaren Kompromisse verhindert.
Misstrauen und gegenseitige Abneigung
Die eifrigen Versicherungen Obamas und das Bemühen Netanyahus, Einigkeit zu dokumentieren, können nicht verbergen, dass die beiden einander nicht mögen und auch in politischer Hinsicht eigentlich Gegner sind. Es besteht aber für beide eine Notwendigkeit, diese Sachlage zu verschleiern. Für Obama der Wahlen halber, für Netanyahu weil es in Israel weitsichtige politische Beobachter gibt, die unterstreichen, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten seien für Israel eine Überlebensfrage, und sie seien "noch nie" so schlecht gewesen wie unter Netanyahu gegenüber Obama.
Dass die Israel-Lobby AIPAC mit aller Macht gegen Obama arbeitet und auf seine Abwahl durch einen republikanischen Gegenspieler hin wirkt, ist offensichtlich. Natürlich ist das auch Obama bekannt.