Der Schachzug ist meisterhaft. Die Wahl von Massud Peseschkian ist wie eine Atempause. Ein «Moderater» betritt die Bühne. Allein diese Schlagzeile ist beruhigend, für viele. Was danach geschieht, überlassen wir den Kommenden. – Ein Kommentar des Iran-Experten Ali Sadrzadeh.
Das persische Wort روزنه – Rosaneh ist ein mehrdeutiger Ausdruck, ein poetischer Begriff, der ebenso Schlitz, Luke oder Loch bedeuten kann wie auch Öffnung, Verheissung und Lichtblick. Der Raum, der Kontext ist immer dunkel, und es ist der Dichter, der bestimmt, wie man das Wort zu verstehen hat.
Massoud Peseschkian gilt für viele seit diesem Samstag als ein personifizierter Rosaneh. Nicht nur für den, der am Ende des sehr langen, dunklen Tunnels einen Lichtblick zu sehen glaubt, sondern auch für Ali Khamenei, den Herrn, der die Lochgrösse bestimmt. Das mag verwunderlich klingen, ist aber die Logik der «Wahlen» dieser «Republik».
In der sehr kurzen, nur wenige Tage dauernden Wahlkampagne wurde das Wort Rosanah zu einem Schlagwort für Peseschkian und gegen Dschalili. Für einen Herzchirurgen, der sich als versierter Arzt präsentiert, gegen einen Politologen, der über die «Diplomatie des Propheten» promoviert hat. Dschalili steht einem sehr mächtigen Netzwerk namens جبهه پایداری – Widerstandsfront – vor, das viele als «heraufziehende schiitische Taliban» bezeichnen.
Gäbe es international einen Preis für Wahlinszenierung zu vergeben, wären die Herren hinter den Teheraner Kulissen unbestrittene Gewinner. Allein die Prozedur, wie Peseschkians Name es auf die Kandidatenliste schaffte, zeigt die Meisterschaft der Inszenierung.
Er verdanke alles dem «hochverehrten Führer», sagte der Kandidat oft und unmissverständlich. Er nannte zwar die Missstände beim Namen, doch er betonte stets zugleich, nur in jenem Rahmen handeln zu wollen, den der Führer vorzeichnet. Er sei gekommen, um die Wahlbeteiligung zu erhöhen, wiederholte er ebenfalls unumwunden.
Und das unterscheidet Peseschkian von allen anderen Präsidenten, die unter dem Banner der Reform und der Mässigung in dieser «Republik» die Szenerie betreten haben. Mohammad Khatami, der erste gescheiterte «Reformpräsident», hatte stets und unmissverständlich zu verstehen gegeben, Khamenei bremse und behindere ihn.
Auch Hassan Rohani, der das Atomabkommen mit den westlichen Mächten unterzeichnete, sprach wiederholt vom «tiefen, mächtigen Staat», der alles torpediere.
Peseschkians öffentliche Zusicherung, er werde nichts gegen den Willen des Führers tun, ist der Preis seiner Kandidatur und schliesslich seiner Wahl. Sie steckt auch jenen Freiheitsraum ab, in dem er die Zustände kritisieren und dagegen vorgehen darf.
Der Chirurg beherrscht sein ärztliches Handwerk sehr gut, doch er ist ein zutiefst religiöser Mensch. Er beherrscht besser als manche Ayatollahs die Exegese der schiitischen Texte. Er will zwar die Sittenwächter bändigen, doch bis er sich eindeutig und überzeugend gegen das Hijab-Gesetz aussprechen wird, hat er noch einen sehr langen Weg vor sich. Und die Frage ist dabei nicht, ob er kann, sondern ob er will.
In den Tagen des Wahlkampfes tauchte in den sozialen Medien ein langes Interview mit ihm auf, in dem er sich dafür rühmt, wie er an seiner Universität den Hijab durchsetzte, bevor dieser überhaupt zum Gesetz wurde. Er versteht sehr gut die Gewalt gegen Frauen zu kritisieren, doch er zeigt bei allen seinen Auftritten, in welchem kulturellen und religiösen Raum er sich bewegt.
Innenpolitisch steht er vor einem riesigen Berg von Problemen. Nicht nur in der Frauenfrage, die für die Islamische Republik zu einer kulturell existenziellen Krise herangewachsen ist. Allein, dass er über die Gewalt der Sittenwächter reden darf, zeigt, dass das Regime auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser Krise ist.
Für Khamenei ist Peseschkian aus einem noch wichtigeren Grund ein Rosaneh, eine Öffnung aus einem sehr bedrohlichen, mörderischen und zugleich realen Szenario. Das, was sich in Gaza abspielt, die unaufhörlichen Kriegsspiele an der libanesisch-israelischen Grenze, in die Iran über kurz oder lang hineingezogen werden wird, und last but not least die Person Donald Trump, der ante portas vermutet wird: Für all das braucht Khamenei momentan keinen Dschalili, mit dem die Welt mehr Armageddon als Ausweg assoziiert.
Die Islamische Republik habe einen moderaten Präsidenten, der auf der Suche nach Verständigung sei: Allein diese Schlagzeile schafft eine Atempause. Dieses von innen- und aussenpolitischen Krisen geschüttelte Staatsgebilde befindet sich zudem in einem sehr gefährlichen Übergangsprozess zur Post-Khamenei Ära.
Peseschkian ist kein Mullah, hat keine Partei, kein Netzwerk, und – soweit bekannt – ist er in keine mafiöse Struktur verwickelt. Und er ist ein tief Gläubiger, dessen Priorität die Bewahrung des Systems ist. Das macht ihn nicht gefährlich. Dass er mit seinen Auftritten und Äusserungen Kritiker im Inneren besänftigt und nach aussen die Mässigung des Systems präsentiert, macht ihn zum geeigneten Präsidenten des Tages. Was morgen geschieht, ist eine andere Frage.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal