Zwar steht die Bekanntgabe der Wahlresultate noch aus, doch steht das Ergebnis schon jetzt fest: Die Nationale Fortschrittsfront, in der die sieben staatstragenden Parteien vertreten sind, wird 200 Sitze erhalten. Die Liste regimetreuer Oppositionsgruppen wird keinen Sitz erhalten, und von den 50 zu bestimmenden «Parteilosen» werden alle einen Treueschwur auf das Regime abgelegt haben. Dies gilt auch für die 2500 Kandidatinnen und Kandidaten, die sich auf den Parteilisten beworben hatten. Der Volksrat ist ein Parlament ohne jeden Einfluss. Dreimal jährlich findet eine Session statt, an der al-Asad eine seiner eher ermüdenden Reden hält und an der die Parlamentarier Beifall klatschen dürfen. Fehlt dem Präsidenten einmal dieser Beifall, so kann er den Volksrat zu einer Sondersitzung einberufen.
Rückblick
Bei den vorletzten Wahlen 2012 hatte das Regime noch ein Experiment gewagt und eine regimetreue Oppositionsliste namens Volksfront für Wandel und Freiheit zugelassen, der sich auch die Syrische Sozialnationalistische Partei angeschlossen hatte. Diese Liste gewann damals sechs Sitze, zudem konnten sich weitere 27 Unabhängige in den Wahlkreisen durchsetzen. Der Syrische Baʿth, also die eigentliche Partei des Regimes, gewann wie gewohnt die absolute Mehrheit der Sitze. Bei der nächsten Wahl vier Jahre später wurden die Machtverhältnisse wieder zurechtgerückt. Die regimetreue Opposition erhielt keinen Sitz mehr, dafür durfte die Syrische Sozialnationalistische Partei (SSNP) in den erlauchten Kreis der Nationalen Fortschrittsfront aufsteigen. Dieser Liste wurden nun 200 Sitze zugestanden, 32 mehr als noch 2016 und 2012. Der Baʿth wird nun 172 Sitze erhalten, die SSNP sieben.
Der Baʿth als Staatspartei
Der Baʿth (amtlich die Arabische Sozialistische Baʿth-Partei – Region Syrien) stellt bislang 30 der 35 Regierungsmitglieder. Parteichef, beziehungsweise im Jargon des Baʿth der «Regionalsekretär», ist al-Asad. Schon unter al-Asads Vater waren den Baʿth-Kadern viele Rechte genommen worden, man munkelte sogar, dass al-Asad die Partei auflösen wollte. Doch erwies sich die soziale, politische und militärische Kontrolle über das Staatsvolk durch eine Partei von privilegierten Karrieristen als überaus funktional. Es integrierte zudem die vor allem den in Westsyrien herrschenden Klientelismus und bot den alawitischen Militärangehörigen einen direkten Zugang zu den vom Staat angebotenen sozialen und wirtschaftlichen Privilegien. Die bedingungslose Treue zu Assad habe letztlich die Treue zu den alten ideologischen Überzeugungen ausser Kraft gesetzt, meinte ein kritischer Beobachter.
Die Umwandlung des ideologischen Baʿth-Staats in ein Patronage-Netzwerk war in den 1990er Jahren abgeschlossen. Übrig blieb ein Staat, der seine Bevölkerung nur nach deren Funktionalität, Loyalität und Anstrengung sortierte. Er nahm den Charakter einer Meritokratie in Gestalt einer Verdienst- und Gehorsamsdiktatur an und schuf sich damit die Grundlagen für seine Selbstzerstörung. Die Baʿth-Partei wurde zum Sammelbecken der durch Privilegien bevorzugten Landesbewohner. 1987 hatte die Partei nur 50’000 Mitglieder, 2010 waren es 1,2 Millionen.
Patronage und Sukzession
Schon in seiner Antrittsrede vor dem syrischen Parlament anlässlich seiner Vereidigung am 17. Juli 2000 hatte Bashshār al-Asad wiederholt von «meinem Volk» gesprochen, das ihm mit einem Referendum das Amt des Präsidenten angetragen hätte. Solche royalistisch anmutende Redeweise macht deutlich, wie sich der damals 35-jährige al-Asad sah: ein monarchischer Erbe des Werks seines Vater Hāfiz al-Asad, den seine Untertanen mit fast 98% Zustimmung in die Position eines Leviathan gewählt hatten. Damals mutmasste die arabische Öffentlichkeit, dass in vielen nahöstlichen Ländern nun die alte Garde abtreten und dass ihre Söhne die Macht beerben würden. Doch die alte Generation (Mubārak in Ägypten, Gaddafi in Libyen, al-Bashīr im Sudan, Saddam Husain im Irak, Bin ʿAlī in Tunesien) zögerten, bis sie die Geschichte vom Thron stiess. Dem jungen Augenarzt Bashshār hingegen kam der Zufall zu Hilfe. Am 10. Juni 2000 starb der syrische Präsident während eines Telefongesprächs mit dem libanesischen Ministerpräsidenten Salīm Hoss an einem Herzinfarkt. Sechs Jahre zuvor war BashshārS älterer Bruder Bāsil bei einem selbstverschuldeten Autounfall am Flughafen von Damaskus umgekommen. Der «Kronprinz» Bāsil hatte massgeblich die Umstrukturierung des Baʿth-Systems vorangetrieben, unter anderem durch eine Militarisierung der Bürokratie, den Ausbau der Geheim- und Sicherheitsdienste und eine Korruptionsbekämpfung genannte Neugestaltung der Meritokratie. Bashshārs Vater Hafiz veranlasste, dass Bāsil einem Märtyrer gleich vom Staatsvolk verehrt wurde.
Dem in London residierenden Augenarzt Bashshār mag das Recht gewesen sein, denn so konnte er seine Netze knüpfen, ohne sich im Apparat des Baʿth zu verstricken. Bashshārs Netzwerk rückte die vier alawitischen Familien aus der Gegend von Qardāha, die durch al-Asad privilegiert worden waren, vollends ins Zentrum der Macht. Nutzniesser waren vor allem die Familien Makhlūf, Shālīsh, Akhras, ʿAbbūd und Khayyār, mit denen die Asads zum Teil verschwägert sind: Bashshār al-Asads Mutter ist eine Makhlūf, seine Ehefrau Asmā᾽ eine Akhras. Die Macht der Asads beruhte darauf, dass es ihnen gelungen war, über den Baʿth den Clanen der Kalbīya-Föderation im Norden des Alawitenlands die Hegemonie über Syrien auszuüben. Doch zugleich verlangte dies, dass die Asads ihre Patronage nutzen mussten, den grossen Familien der Kalbīya ihre Privilegien zu sichern. Das schien in der Vergangenheit allerdings immer weniger zu gelingen. Zwischen den ʿAbbūd und den Khayyār war es schon im Sommer 2012 zu einem Streit um die Rangordnung gekommen, der teils mit Waffengewalt ausgetragen wurde. Die Familie Makhlūf ist als Folge mangelhafter Subordination von al-Asads Cousin Rāmī in Ungnade gefallen.
Repräsentation
Die Asads verschleiern das ausgeklügelte Patronagesystem durch eine royale Selbstinszenierung. Manche Auftritte von al-Asad und seiner britisch-syrischen Ehefrau Asmā᾽ wirken wie eine nachgestellte Aufführung einer öffentlichen Darbietung von britischen Royals. Obwohl Oberkommandierender der syrisch-arabischen Armee, betont al-Asad mehr denn je seine zivile Rolle und überlässt die militärische Repräsentationssymbolik seinen Satrapen im Land. Dazu gehören gerade auch die Provinzgouverneure und Armeegeneräle, die oft aus privilegierten Familien ausserhalb des alawitischen Führungszirkels stammen. Manch einer von ihnen verdankt dem Regime die Aufnahme in den Führungszirkel durch besondere Verbundenheit, die mit schonungsloser Brutalität begleitet wird. Zu ihnen gehört Generalmajor ʿAlī Mamlūk, lange Zeit Chef des Nationalen Sicherheitsbüros und heute Vizepräsident für Sicherheit. Andere Familien konnten hingegen ihre Stellung im System von al-Asad nicht halten. Die verschwägerten Familien Tlās, al-Jabīr und al-Khayr aus Homs, Aleppo und Damaskus, die noch enge Verbündete von Hāfiz al-Asad gewesen waren, sind inzwischen gänzlich in Ungnade gefallen.
Das Wahlvolk
Für die Wahlbezirke, die nicht unter der Hoheit des Regimes von Damaskus stehen, wurde die Stimmabgabe in benachbarten Regionen möglich gemacht. Damit will das Regime unter Beweis stellen, dass ganz Syrien den neuen Volksrat gewählt hat. Die syrischen Medien wetteiferten darum, Normalität zu demonstrieren. In den Wahllokalen habe so grosses Gedränge geherrscht, dass immer wieder auf die wegen der Corona-Pandemie erlassenen Abstandsregeln hätte hingewiesen werden müssen, hiess es.
Doch werden die Wahlen zum neuen Volksrat, mit denen sich der Präsident und sein Regime feiern liessen, nur einen kurzfristigen Effekt haben: Für einen Moment dürfen die Mandatsträger der Überzeugung sein, das «Volk» zu repräsentieren. Doch bald wird das Regime wieder in Erinnerung rufen, wessen Mandat das Parlament vertritt: nicht das der Bevölkerung, sondern des Regimes. Ganz dem Herrschaftsmodell des Leviathans entsprechend wird das Regime seine Mandatsträger zum eigentlichen «Volk» erklären, das die historische Bürde auf sich genommen habe, die rebellische Bevölkerung zu bekämpfen und ihren Terrorismus auszumerzen.
Im nächsten Jahr sollen dann Präsidentschaftswahlen abgehalten werden. Das Patronagesystem wird von al-Asad verlangen, sich erneut zur Wahl zu stellen, und er wird natürlich dieser Aufforderung entsprechen. Das Regime wird dann nicht nur zwei weitere Scheinkandidaten wie bei der letzten Wahl 2014 ins Rennen schicken, sondern gleich fünf, sechs oder vielleicht noch mehr. Damit will das Regime zeigen, dass die syrische Bevölkerung tatsächlich eine Wahl hatte und dass al-Asad trotz der Konkurrenz mit über 90% der Stimmen wiedergewählt werden wird.
Und weiter?
Dies aber ist Zukunftsmusik. Die Wahlen können die Strukturkrise des syrischen Patronage- und Repräsentationssystems nicht übertünchen. Der russische Einfluss auch in innenpolitischen Entscheidungsprozessen wächst; schiitische Hizbullah-Einheiten und iranische Milizen haben sich in verschiedenen Kommunen in Mittelsyrien Nischen gesichert, die nicht mehr vom Regime kontrolliert werden. In Südsyrien droht ein Wiederaufflackern des Kriegs, und im Südosten und Osten stehen sich amerikanische und russische Einheiten gegenüber. Die seit Monaten andauernden Gefechte westlich der Stadt Hama zeigen, dass das Regime zurzeit über keine militärische Strategie verfügt, seine Hoheitsgewalt im Süden von Idlib auszudehnen, will es keinen Konflikt mit der Türkei riskieren. Fast 80% der Bevölkerung ist auf internationale Hilfe angewiesen, die Infrastruktur ist zusammengebrochen, die Wirtschaft funktioniert nur noch für die privilegierten Gruppen des Staats. Die heimliche Reserve Syriens, die libanesische Wirtschaft, kann nicht mehr einspringen, da sie selbst am Boden liegt.