Wer ein Auge für Schweizer Schulhäuser aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, staunt über die architektonische Pracht dieser Bauten. Viele weisen Residenzcharakter auf. Sie signalisieren Aufbruch und Fortschritt. Ein Blick in die damalige Kleinstadt Zug.
Bis weit ins 19. Jahrhunderts hinein haben es Schule und Unterricht schwer: Einen regelmässigen Schulbesuch gibt es nicht. In einer bäuerlich-gewerblichen Gesellschaft besitzt Bildung einen bescheidenen Stellenwert. Sie bleibt das Vorrecht weniger. Die Bevölkerung ist arm, das Leben vieler kärglich, der Unterricht darum schmal. Man braucht die Kinder als Hilfskräfte auf Feld und Hof. Der Stall ist notgedrungen stärker als die Schiefertafel, das Brot wichtiger als ein Buch. Der obligatorische Schulbesuch, wie ihn die Helvetik von 1800 postuliert und der liberale Bundesstaat von 1848 vorsieht, ist darum schwierig zu konkretisieren.
Von der schmalen Schulstube zum majestätischen Bildungstempel
Mit der Totalrevision der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) von 1874 müssen alle Kantone die Primarschulpflicht durchsetzen: Die neue BV verordnet die allgemeine Schulpflicht. Der Primarunterricht wird für alle Kinder obligatorisch und unentgeltlich. Der Weg dahin aber ist steil und steinig. Bildung muss mühsam aus dem Wirrwarr des Zufallslernens befreit und zeitgerecht institutionalisiert werden. Doch es geht vorwärts.
Die Bildungsexpansion nach 1850 ruft nach Raum. Die Stadt Zug beispielsweise errichtet auf den Kellergewölben des alten Spittels ein repräsentatives Schulgebäude – aus Natursandstein und gehalten ganz im Stil der zeitgenössischen Neugotik: das Burgbachschulhaus. Der Bau wird 1875 eingeweiht und zum zentralen Schulhaus der Stadt Zug – allerdings nur für Knaben.[1]
Die oft stickige Enge des Zimmers weicht nun der Weite eines Gebäudes. Der Wechsel aus der muffig-maroden Schulstube früherer Zeiten ins geräumig-grosse Burgbach-Schulhaus gleicht einem Siebenmeilenschritt. Es umfasst sechs luftige und helle Unterrichtsräume, dazu einen Musiksaal und auch Fachräume. Das Neue wird fassbar und konkret.
Die Schulhausuhr signalisiert eine neue Epoche
Jede Gemeinde baut ihr Schulhaus, oft mit klassizistischen Säulen, meist mit klar gegliederter Fassade, weiten Fenstern und einem grossen Treppenaufgang: Die Kinder steigen nun zur Bildung empor – und durchschreiten für den Unterricht die grosse Eingangspforte. Symbol und Auftrag zugleich. Auch beim Burgbachschulhaus.
Eindrücklich kommt das beim imposanten Stadtzuger Neustadtschulhaus (heute Musikschule) zum Ausdruck: die breite Stiege und die markante Türe mit dem Rundbogen und den allegorischen Figuren. Sie steht auch Mädchen offen – allerdings erst nach hartem politischem Ringen.
Neben der Kirche erhält vielfach auch das Schulhaus eine Uhr. Sie signalisiert die neue Epoche: Das Schulleben geht im Takt – die Zeit der Uhr als standardisierte Normalität. Zeiten der Schule sind Zeiten des Lernens.
Ein neoklassizistischer Schulpalast
Wer die beiden Stadtzuger Schulhäuser betrachtet, wundert sich über die architektonische Eleganz dieser Bauten. Beide weisen Residenzcharakter auf. Sie gelten – wie viele Schulhäuser aus dieser Zeit – als Tempel des bildungspolitischen Aufbruchs und Fortschritts. Der Bau signalisiert die neue Ära: Das Land realisiert ideell und dann auch materiell-organisatorisch, was bereits die Helvetische Republik (1798–1803) unter ihrem Bildungsminister Philipp Albert Stapfer erreichen wollte: eine umfassende und für alle Kinder obligatorische Bildung und Erziehung als Fundament des demokratischen Staates.
1870 entsteht etwas ausserhalb der Stadt Zug eine private Knabenschule. Errichtet wird ein eindrücklicher Schulpalast im neoklassizistischen Stil. Dazu gehört auch eine Turnhalle – die erste im Kanton Zug; dazu zählen Spielplätze, eine Allee und ein weiter Park mit Springbrunnen, Grotten und einem Weiher. Das Areal reicht bis zum See. Die Gotthardbahn existiert noch nicht. Erst 1897 durchschneiden ihre Geleise die weitläufige Grünfläche dieser herrschaftlichen Schulanlage.
Zeitzeuge und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge
Die Schule trägt den Namen Minerva, nach der römischen Göttin der Weisheit. 1906 entsteht auf dem Campus ein privates «Mädchengymnasium und eine internationale höhere Töchterschule»; Namensträgerin wird Athene, die griechische Göttin der Wissenschaft. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs muss die Schule schliessen.
1920 zieht die Kantonsschule Zug ins imposante Schulgebäude der Athene ein – mit rund 100 Schülern und einigen wenigen Schülerinnen. Der Name Athene ist Programm und Auftrag: humanistische Bildung, orientiert an der griechisch-römischen Klassik – für unzählige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. 50 Jahre später zählt die Schule über 700 Personen. Das Bauwerk ist zu klein geworden. 1975 zieht das Zuger Gymnasium an einen neuen Standort – nach einem rauschenden Abschiedsfest und einer «wilden Nacht mit Athene».[2]
Der alte Schulpalast von 1870 soll einem Neubau weichen. Doch eine Volksinitiative rettet diesen Zeitzeugen und Erinnerungsort vieler Gymnasialjahrgänge vor dem Abriss. Das Gebäude wird sorgfältig renoviert.[3] Heute beherbergt die Athene die kantonale Fachmittelschule FMS und die Berufsvorbereitungsschule BVS.
Bildung als Bergaufprozess
Das «Volk im Zwilch», die einfachen Leute, aus seiner Not herausführen und emporführen – und es dem «Volk in Seide» über Bildung gleichstellen, das ist Johann Heinrich Pestalozzis Idee, davon träumen die Repräsentanten der Helvetik, das realisiert der neue Bundesstaat von 1848. Doch Bildung ist anstrengend und anspruchsvoll, lernen und sich bilden ein steter Bergaufprozess und kein linearer Schnellpfad – das weiss die Gründergeneration der Schweizer Volksschule. Die Treppe zum Schulhaus symbolisiert es. Viele alte Schulhäuser erinnern an diesen Aufbruch – und den Aufstieg zur Bildung.
Die repräsentativen Schulgebäude von damals zeigen zugleich, welche eindrückliche Form man der Formatio, der Bildung, gegeben hat: Der Weg führte aus der engen, stickigen Schulstube hinaus zum majestätischen Bildungstempel. Bildung als Befreiung. Ganz im Sinne des Philosophen Immanuel Kant. Das erstaunt nicht. Die frühen Promotoren einer besseren Bildung waren vielfach am Denker aus Königsberg geschult. Das galt für Stapfer wie für Pestalozzi.
[1] Die Mädchen gehen weiterhin zu den Lehrschwestern von Maria Opferung oberhalb der Stadt Zug zur Schule.
[2] Andreas Grosz: ATHENE oder: Aus der Schule plaudern. In: NZZ, 25./26.02.1989, S. 86-88
[3] Renato Morosoli: Göttin am Zugersee. In: Personalziitig 86/2018, S. 14f.