Der Monsun hatte noch nicht nachgelassen, als wir Ende September nach Bombay zurückkehrten. Am zweiten Tag ging ein heftiges Gewitter über die Stadt nieder. Als ich unseren Hauseingang betrat, hing ein Schild am Liftgitter, das mich anwies, die Kabine im ersten Stock zu betreten.
Der Wächter klärte mich auf: Der Boden des Liftschachts stehe unter Wasser. Auch ich sah dies nun und fragte ihn, wie dies möglich sei; der Hausflur mit dem Lifteingang liege ja etwa fünfzig Zentimeter über dem Hof. Nein, das Wasser sei durch den Boden hochgekommen; seit er hier arbeite, sei dies noch nie geschehen.
Es war auch für mich das erste Mal, dass ich den Klimawandel unter den eigenen Füssen spürte. Ich erinnerte mich an den neuen Bericht des Internationalen Klimarats IPCC, über den ich im Flugzeug gelesen hatte. Er setzt sich mit den raschen Veränderungen auseinander, welche die Erderwärmung für die Meere hat.
Wochenlang unter Wasser
Bombay gehört zu jenen Hotspots, die davon am meisten betroffen sein werden – kein Wunder, stand ich doch (zusammen mit einem Drittel der Stadtbevölkerung) auf einem Boden, der vor 150 Jahren noch Meer war. Die sieben Inseln im Mündungsgebiet mehrerer Flüsse wurden damals durch Landauffüllung allmählich miteinander verbunden und am Ende auch mit dem Festland vereint.
Wo diese Landfills das offene Meer vor sich hatten, wurden Dämme gebaut, die als sogenannte Causeways die wichtigsten Strassenverbindungen herstellten. Dahinter setzte und senkte sich das Land – auch aufgrund des Gewichts von Häusern, Fabriken, Strassen – sodass heute rund fünfzig Prozent des überbauten Gebiets bei Flut unter dem Meeresspiegel liegen.
Die Stadtverwaltung hat offiziell vierzig Flutzonen identifiziert, die im Monsun manchmal wochenlang unter Wasser stehen. Es bedarf nur der Gleichzeitigkeit von Gezeiten-Hochstand und einem starken Regen, um die Abflussrichtung der städtischen Abwässer umzukehren und Meereswasser eintreten zu lassen. In diesem Jahr, dem niederschlagsreichsten seit 1956, operierten Züge, fuhren Autos, gingen Fussgänger regelmässig knietief im Wasser zur Arbeit.
Grossprojekt einer Küstenstrasse
Dennoch war nirgends Panik spürbar, als ich noch die letzten paar Monsunwochen erlebte. Mir schien, dass die meisten Bewohner den Notstand bereits zum „Normalstand“ erklärt haben. Man kommt durchnässt im Büro an, reibt sich die Haare trocken, nimmt eine Plastiktüte mit Ersatzkleidern unter dem Schreibtisch hervor und schaltet den Computer an. War ich der Einzige, der an die Parabel vom Frosch denken musste, der sich im allmählich heisseren Wasser vergaren lässt, weil das Ende so gemächlich daherkommt?
Nicht ganz. Wenn es um neue massive Eingriffe in die heikle Balance von Mensch und Natur – hier: von Wasser und Land – geht, begehren die Leute auf. Ein Beispiel ist das städtische Grossprojekt einer Küstenstrasse, die von der Südspitze Bombays 34 Kilometer in den Norden der Stadt führen soll.
Ursprünglich war eine Brücke geplant. Doch dann regnete es Proteste gegen die Zerstörung dieser fundamentalen Verbindung einer Hafenstadt mit dem Meer. Die Fischerdörfer im Stadtgebiet fürchteten um die Fischströme, Hunderttausende um die Meeresluft, die sie bei Morgenübungen und Abendspaziergängen entlang der Uferpromenaden einatmeten; die Alteingesessenen sahen bereits ein historisch gewachsenes Stadtbild verschwinden, an dem das Meer einen wesentlichen visuellen Anteil hat.
Weltweit teuerstes Bauland
Die Stadtregierung gab dem Widerstand nach. Aus Einsicht? Nein, sie ersann sich eine noch lukrativere Variante ihres Projekts: Eine Küstenstrasse auf trockenem Boden, mit acht Spuren und hundertfünfzig Metern Landauffüllung zwischen Strasse und Festland. Mithin eine Goldader, denn in dieser enggebauten Metropole von bald zwanzig Millionen Menschen gehört Bauland zum (weltweit) teuersten Boden.
Die Alternativ-Version gab den Planern und Schönschreibern die Möglichkeit, einen Goldregen aus dem Hut zu zaubern, um auch dem armen Schlucker die Augen zu verdrehen. Nicht nur Parkhäuser, Verkehrsschnittpunkte und Polizeistationen werden dort stehen, auch verbilligter Wohnraum, Freizeitparks, Kinderschaukeln, Jogging Tracks. Und Blumen, Bäume, Grasland!
Es brauchte einige Zeit, bis sich neuer Widerstand formierte. Umweltschützer und Stadtplaner wurden eingelullt durch den Umstand, dass wichtige Bewilligungen, namentlich jene der Umweltbehörde, noch gar nicht vorlagen. Diese hatte ein Environmental Impact Assessment eingefordert. Doch statt dieses zu erstellen, nutzte der Staat das Zeitfenster anders. Plötzlich gingen entlang der Uferpromenaden Bauzäune hoch, Lastwagenkolonnen schütteten selbst in der Nacht Schotter ins Meer, Planierraupen frassen sich in den Küstenboden.
Schlaumeiertrick
Die Absicht der Politiker wurde rasch evident: Vollendete Tatsachen schaffen. Staatsanwälte würden bei Einsprachen den Richtern den ökonomischen Verlust vorrechnen, den ein Projektstopp bewirken würde; und wenn nötig an die Dringlichkeit der Arbeitsbeschaffung erinnern.
Es ist eine riskante Strategie, denn auch die Justizbehörde hat den Schlaumeiertrick bemerkt. Eben erst hat das Oberste Gericht des Landes vier Hochhäusersiedlungen in Kochi im Bundesstaat Kerala zum Abbruch freigegeben, weil sie die Vorschriften über den Bau an der Küste verletzten. Rund 1500 Wohnungen müssen bis zum 11. Oktober geräumt werden.
In Bombay haben die Projektgegner vor dem Obergericht Maharashtras ebenfalls einen ersten Sieg davongetragen. Das Coastal Road Project wurde sistiert, und die Baumaschinen mussten „vorläufig“ abgezogen werden. Die Stadt ging in Berufung, ans Oberste Gericht in Delhi. Doch zum Jubeln besteht kein Anlass. Im Gegenteil, sogar Projektgegner rechnen mit einem Endsieg der Befürworter. Das ist erstaunlich, sind es doch die Gerichte, die in den vergangenen Jahrzehnten die eigentlichen, wenn nicht die einzigen, Beschützer der (vorbildlichen!) Umweltgesetze waren – wie das Kerala-Beispiel zeigt.
Täglich dreissigtausend Autos
Und hat nicht der indische Bundesstaat selber beim Pariser Umweltgipfel einen umfassenden Climate Action Plan vorgelegt? Premierminister Modi selber hat an der kürzlichen Uno-Generalversammlung dessen Ziele bekräftigt.
Bei der Küstenstrasse von Bombay geht es zudem nicht nur um die Zerstörung einer schönen Hafenansicht und den Verlust des Sonnenuntergang-Erlebnisses für die reichen Hochhausbewohner entlang dem Queens Necklace, wie der Marine Drive von Südbombay genannt wird.
Die achtspurige Autobahn soll täglich dreissigtausend Autos hin und zurück führen – dies in einem Augenblick, wenn weltweit öffentliche Verkehrsmittel als einzig verantwortbare Alternative anerkannt werden. Dass die Abgase wesentlich zu Meereserwärmung und -anstieg beitragen, ist inzwischen eine Plattitüde; möchte man glauben.
Acht Prozent profitieren
Doch wenn es um das Paktieren von Baufirmen und Politikern geht, verhallt selbst die vollbrüstige Rhetorik eines Premierministers. Jedenfalls reagierten die Lokalpolitiker auf die drohenden Umweltschäden mit einer geringfügigen Anpassung. Sie erhöhten mit einem Federstrich das Bett der Küstenstrasse auf sechs Meter – als gäbe es keine Fischer, die mit ihren Booten aufs Meer fahren wollen, keine Flüsse, Flutzonen und Abwässer, die sich im Meer entleeren müssen.
Neben dem ökologischen Argument fällt auch ein soziales ins Gewicht. Das Projekt wird für den Steuerzahler auf umgerechnet zwei Milliarden Franken zu stehen kommen, Kostenüberschreitungen nicht mitgerechnet. Profitieren werden davon die acht Prozent der Bewohner der Stadt, die über ein Auto verfügen. Die restlichen 92 Prozent werden sich weiterhin in Vorortszüge zwängen müssen.
Oder sie werden in den Untergrund ausweichen. Denn die Zentralregierung baut mit japanischem Kapital gleichzeitig eine U-Bahn, die ebenfalls in den Norden der Stadt führt. Obwohl der Bau mit seinen 29 Zugängen den Alltag der Mumbaikars wesentlich einengt, ist dieses Projekt nicht kontrovers (mit Ausnahme eines Rangierbahnhofs im Waldgebiet des Nationalparks, dem mehrere tausend Bäume geopfert werden müssen).
Unabhängige Gerichte?
Perfiderweise wird nun ausgerechnet der Metro-Bau von den Politikern ins Spiel gebracht, um dem Vorwurf zu begegnen, dass mit der Küstenstrasse einer kleinen Elite der Rote Teppich ausgerollt wird. Sie wärmen eine alte Gleichung auf: Die einen über, die andern unter dem Boden. Es könnte durchaus sein, dass selbst das Oberste Gericht nach diesem Feigenblatt greift.
Doch hat nicht dasselbe Gericht in Kerala soeben bewiesen, dass es standfest bleiben kann? Wer so denkt, vergisst, dass im gegenwärtigen politischen Klima auch die Gerichte politisch hellhörig geworden sind. In Kerala ist eine Kongressregierung am Ruder, in Maharashtra dagegen ist es die BJP, die Partei, die auch in Delhi das Sagen hat. Und wenn die BJP heute etwas will, wird sie es auch bekommen.
Man braucht nur nach Kaschmir zu schauen, um die Unabhängigkeit des Gerichts zu bezweifeln. Seit zwei Monaten stehen zehn Millionen Inder dort quasi unter Hausarrest, ohne Rechtsbasis. Dennoch hat das Oberste Gericht bisher die Verfassungsmässigkeit dieses Ausnahmezustands trotz mehrerer Rechtsappelle nicht in Frage gestellt – und lässt die Regierung Modi weiterhin gewähren.
Übertriebene Befürchtungen?
Bis zu einem Meter werden die Meere im Jahr 2100 angestiegen sein, falls die Welt weiterwurstelt wie bisher. In Indien tun es die Politiker noch dreister. Sie behaupten, die Arabische See des Indischen Ozeans kenne praktisch keine Wirbelstürme, die Befürchtungen seien daher übertrieben.
Spätestens der Zyklon Idai, der am 15. März in Mozambique die Hafenstadt Beira weitgehend zerstört hat, wird sie eines andern belehren. Oder vielleicht nicht. Sie kochen weiterhin ihr Süppchen, auch wenn sie – wie der sprichwörtliche Frosch – selber drin stecken.