Ein verschärftes Strafgesetz verhängt drakonische Strafen gegen Sex-Täter, und immer mehr mutige Opfer brechen das Schweigegebot.
Ein Jahr ist vergangen seit dem Tod der vergewaltigten jungen Frau in Delhi – und Indien ist ein anderes Land. Die Grausamkeit ihrer Schändung, der Tathergang, die Persönlichkeit der jungen Frau – all dies traf viele Menschen mit einer derartigen Wucht, dass es zu regelrechten Strassenschlachten kam. Die Politik kam in Zugzwang. Drei Monate später hatte das Land ein Strafgesetz, das alle Formen sexueller Belästigung mit drakonischen Strafen belegt und der Polizei und Gerichten die Verfahrens-Schlupflöcher versperrt.
Man muss nur den Namen Bhanwari Devi nennen, um zu ermessen, was dies bedeutet. Devi war 1992 eine vom Staat angestellte 34-jährige Hilfshebamme im Dorf Bhateri in Rajasthan. Als sie erfuhr, dass ein reicher Bauer im Dorf sein neun Monate altes Kind verheiraten wollte, zeigte sie dies pflichtgemäss an. Zur Rache wurde sie unter den Augen ihres Ehemanns auf freiem Feld von fünf Verwandten des Bauern vergewaltigt, weil sie, eine unterkastige Töpferfrau, sich in die Angelegenheiten einer höheren Kaste eingemischt hatte.
Gezwungen, den Rock auszuziehen
Zusammen mit ihrem Mann machte sich Devi noch am gleichen Tag zu Fuss zur Polizeistation auf, zwanzig Kilometer von Bhateri entfernt. Dort musste sie ihre Klage auf offener Strasse zu Protokoll geben und wurde gezwungen, ihren Rock als Beweismaterial auszuziehen; ihr Mann musste sie mit seinem Turbantuch notdürftig bekleiden. Drei Jahre und 182 Gerichtstermine später wurde ihre Klage abgewiesen, u.a. mit dem Argument, ein fünfzigjähriger Angeklagter sei „nicht fähig, vor seinem Neffen einen sexuellen Akt zu auszuführen“.
Bhanwari Devi, inzwischen unterstützt von Frauenorganisationen, gab nicht auf. Sie weigerte sich, das Verfahren gegen Zahlung einer Geldsumme einzustellen und legte beim Obergeicht von Rajasthan Berufung ein. Eine NGO erwirkte währenddessen beim Obersten Gericht in Delhi Richtlinien, die sicherstellen sollten, dass Frauen an ihrem Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit besser geschützt und ihre Klagen mit der nötigen Nachdruck bearbeitet werden.
Die Vergewaltigungen nahmen sprunghaft zu
Für Devis Rechtssuche hatte dies allerdings keine Wirkung. Heute, 21 Jahre nach der Gruppenvergewaltigung ist ihre Klage immer noch hängig. Aber wäre der hartnäckige Kampf dieser armen Dorffrau nicht gewesen, hätte die heutige Regierung die Richtlinien des Obersten Gerichts wohl kaum endlich ins neue Gesetz aufgenommen, nach sechzehn Jahren. Der eklatante zeitliche Unterschied beider Gerichtsfälle – die fünf Täter von Delhi wurden innerhalb von neun Monaten verurteilt – zeigt, dass Devis Hartnäckigkeit nicht umsonst war.
Die Vergewaltigung von Delhi zeitigte noch eine andere, scheinbar paradoxe Wirkung. Statt dass die Protestwelle potentielle Gewalttäter einschüchterte, nahm die Zahl von Vergewaltigungen sprunghaft zu. Jeden Tag waren die Zeitungen voll von neuen Übergriffen, in allen Spielarten von Gewalt, Tätern und Opfern. War es ein Aufbäumen patriarchalischen Besitzanspruchs? Oder nahm die Polizei Klagen endlich ernst? Oder waren es die Medien, die sich plötzlich ihrer Verantwortung bewusst wurden?
Der Mut, an die Öffentlichkeit zu gelangen
Alle drei Faktoren mögen mitgespielt haben, aber entscheidend war ein anderer: es war der Mut vieler misshandelter Frauen, an die Öffentlichkeit zu gelangen. Es waren die Klagen von zwei jungen Frauen, die dies in den letzten Wochen an den Tag brachten. Der erste Fall betrifft eine junge Gerichtspraktikantin in der Kanzlei eines Obersten Richters. Sie wandte sich mit der Klage an ihren Berufsverband, sie sei von ihm sexuell belästigt worden. Sie riskierte damit nicht nur ihre berufliche Karriere, sondern auch eine öffentliche Zurückweisung durch den ‚Supreme Court‘, der jede Kritik normalerweise streng ahndet.
Der zweite ‚unangemessene Zwischenfall‘ ereignete sich in einem Hotel-Lift in Goa, während eines ‚THINK-Fests‘ der Wochenzeitschrift ‚Tehelka‘. Der ‚Tehelka‘-Herausgeber Tarun Tejpal, ein gefeierter Journalist und international renommierter Roman-Autor, verging sich an einer jungen Kollegin, die beim Festival arbeitete. Sie versuchte vergeblich, sich zu wehren, und ihr Appell, sie sei eine Freundin seiner Tochter sei und er eine Vaterfigur, seit sie in ihrer Kindheit im Tejpal-Haushalt gelebt habe. Tejpal wiederholte seinen Angriffsversuch einen Tag später im gleichen Lift.
„Unangemessener Zwischenfall“
Die Frau hatte sich noch am ersten Abend mit Arbeitskollegen ausgesprochen, entschied sich aber, das Ende des Festivals abzuwarten, bevor sie an ihre Redaktionsleiterin Shoma Chaudhuri gelangte. Diese quittierte die Klage als ‚unangemessenen Zwischenfall‘ und versprach eine interne Untersuchungskommission. Die junge Frau war empört über diese Reaktion, fand die kavaliersmässige Entschuldigung Tejpals völlig ungenügend und legte Klage ein.
Sofort brach ein Entrüstungssturm los. Er hatte gewiss auch mit der schwerwiegenden Befingerung im Lift zu tun. Noch mehr aber betraf er einen Journalisten und eine Zeitschrift, die sich in den zehn Jahren ihres Bestehens nicht nur mit mutigen Nachforschungen über Korruptionsfälle und politische Verbrechen einen Namen gemacht hatten. Sie kämpften auch an vorderster Front gegen Gewalt an Frauen. Dies galt namentlich für Shoma Chaudhuri, weitherum für ihren Mut und ihre spitze Feder geachtet und gefürchtet, und die nun, im Interesse des Renommees von Zeitschrift und Besitzer, von einem ‚unangemessennen Zwischenfall‘ zu reden wagte.
Problematische Aspekte des neuen Strafgesetzes
In einer beispiellosen Hetzjagd wurden Tejpal und Chaudhuri nun von den Medien gekreuzigt, noch bevor Tejpal verhaftet war und das Verfahren begann. Es war, als müssten die Medien den Eindruck zerstreuen, ihre männlichen Mitarbeiter und Chefs frönten hinter dem Bildschirm denselben patriarchalischen Praktiken. Wenn der ‚feministische‘ Tejpal diese kruden Chef-Ansprüche zeigen konnte, was würde das Publikum wohl von ihnen denken? Und so wurde auf Angriff geschaltet und jeder Verfechter eines fairen Verfahrens als ‚Freund‘ Tejpals niedergeschrieen.
In dieser Atmosphäre war es auch nicht mehr möglich, problematische Aspekte des verschärften Strafgesetzes anzusprechen. So wird etwa jede Insertion eines Objektes in einen Geschlechtsteil als ‚Vergewaltigung‘ eingestuft und mit lebenslänglicher Haft bestraft. Als ‚sexuelle Belästigung‘ gelten auch ‚anzügliche Bemerkungen‘, die Einladung zu Sex oder gewaltsame Entkleidung, mit Mindeststrafen von zehn Jahren Haft. Wer von einem unfreiwilligem Sexualakt hört und ihn nicht sofort anzeigt, riskiert ein Jahr Haft.
Spiessrutenlauf
In meinem Bekanntenkreis kam ein weiteres Paradox zur Sprache. Ausgerechnet im Augenblick, wenn Frauen den Besitzanspruch der Männer zurückzuweisen beginnen, sich zu ihrer Sexualität bekennen können und dem Recht, diese zu leben, droht ein neuer Puritanismus, der jeden erotischen Unterton im Diskurs zwischen den Geschlechtern tabuisiert.
Vielleicht ist es nötig, dass das Pendel auf die andere Seite ausschlägt, solange die Geschlechterbeziehungen so schief liegen. Das wird nun deutlich, wenn immer mehr Frauen am Beispiel ihrer beiden jungen Geschlechtsgenossinnen Mut schöpfen und mit eigenen schmerzvollen Gewalterfahrungen in die Öffentlichkeit treten. Sie zeigen, wie sehr die Jobs so vieler Frauen, die meisten in erster Generation berufstätig, ein einziges Spiessrutenlaufen sind, bei dem sie allzuoft nur zwischen sexueller Dienstbarkeit und Jobverlust wählen können.