Anna Hazare hat aus seiner bescheidenen Herkunft nie einen Hehl gemacht und bis heute lebt er in einem kleinen Zimmer, das an den Tempel in seinem Dorf Ralegan Siddhi angebaut ist. Darin hat er nicht viel mehr an Besitz als sein Bett, den Koffer darunter, zwei Stühle und einem Tisch.
Aber jeder Inder weiss aus der Geschichte von Gandhis Unabhängigkeitskampf, dass diese Besitztümer gerade in ihrer Nichtigkeit hochexplosiv sein können. Auch die Regierung in Delhi wird nicht den Fehler der englischen Kolonialherren wiederholen, den ‚halbnackten Fakir‘ zu belächeln. Und falls sie es dennoch tun wollte, wurde sie in den Tagen nach Beginn des Hungerstreiks eines Besseren belehrt: Mehrere Tausend Leute strömen jeden Tag zum ‚Jantar Mantar‘-Park, Delhis ‚Hyde Park Corner‘ in Steinwurfnähe zum Regierungsviertel. Über zweihundert haben sich dem Hungerfasten angeschlossen, und in zahlreichen Städten des Landes finden Sitzstreiks und Demonstrationen statt - aus Solidarität mit Anna Hazare. Wen dies noch nicht überzeugt, braucht nur auf die über zwanzig mobilen Sendestationen zu schauen, die entlang der Seitenstrassen parkiert sind.
Bestechung und Günstlingswirtschaft
Worum geht es? Worum, wenn nicht um das Thema, das die indische Öffentlichkeit seit Monaten wie nichts anderes umtreibt: die Korruption des politischen Systems, Bestechungsfälle, die einer nach dem anderen wie reife Tomaten im Gesicht der Regierenden zerplatzen. Praktisch alle Institutionen sind vom Virus betroffen – Regierung, Parteien, Polizei, Bürokratie, Gerichte, selbst die Anti-Korruptionsbehörde. Gerade diese ist das öffentliche Exempel dafür, dass der Staat mit seinem Kampf gegen die Korruption bestenfalls Schaumschlägerei betreibt und das Volk mit Placebo-Pillen füttert.
Nun ist der Faden gerissen. Für Anna Hazare kam der Risspunkt, als die Regierung ein Ministerkomitee einsetzte, das über die gesetzliche Einführung eines nationalen Ombudmanns für Bestechungsklagen gegen Politiker beraten sollte. Auch Landwirtschaftsminister Sharad Pawar sollte darin Einsitz nehmen. Für Hazare war es der Beweis, dass auch nach 42 Jahren von Diskussionen, Komitees, Vorlagen das Resultat bestenfalls ein zahnloses Gesetz wird, hinter dem sich die korrupten Politiker umso besser verschanzen können. Und kaum ein anderer Politiker hat Bestechung, Günstlingswirtschaft und den Einsatz von Schwarzgeld bei Wahlen so zur hohen Kunst entwickelt wie Sharad Pawar.
Die Wege – und Klingen – der Beiden haben sich schon öfter gekreuzt, kommen doch beide aus Maharashtra, Pawar aus dem reichen ‚Sugar Belt‘, Hazare dem angrenzenden Bezirk von Ahmednagar, einem der ärmsten des Landes. Hazare, ein Lastwagenfahrer in der Armee, war 1975 in sein Dorf zurückgekehrt. Was er vorfand, waren Schmutz, Unrat, Alkoholismus und chronische Missernten wegen Trockenheit. Er nahm den Besen in die Hand und reinigte jeden Tag die Strasse und den Dorfplatz. Bald gesellten sich ein paar Freiwillige zu ihm. Sie richteten das Schulhaus wieder her, und zwangen den Lehrer, wieder Schule zu geben.
Aufstand der Frauen
Dann begann er mit den Frauen des Dorfs eine Kampagne gegen den Alkoholgenuss. Und schliesslich gelang es ihm, mit einfachen Techniken – Furchen, Stauwehren, Baumsetzlingen – das dürftige Regenwasser so lange zurückzuhalten, bis es in den Boden sickern konnte.
Ralegan Siddhi bewarb sich auch um Unterstützung aus den vielen Fonds für Armutsbekämpfung, und da machte Hazare seine ersten Erfahrungen mit Korruption. Doch statt sich abwimmeln zu lassen, veranstaltete er Sit-ins, Fastenstreiks, zuerst im Distrikthauptort, dann in Mumbai, immer mit der Forderung der Bestrafung korrupter Beamter. Rund 400 von ihnen verloren im Lauf der Jahre ihren Job, und insgesamt sechs Minister der Provinzregierung mussten wegen Hazare den Hut nehmen. Im Jahr 2002 veranstaltete er einen zwölftägigen Hungerstreik, an dessen Ende sich die Regierung dazu bequemte, ein scharfes Gesetz über das ‚Recht auf Information‘ zu verabschieden, statt dessen stark verwässerter Version.
Der jüngste Hungerstreik ist Hazares erster auf nationaler Ebene. Aber auch diesmal geht es ihm darum, ein zahnloses Ombudsmann-Gesetz durch eines zu ersetzen, das den Politikern Eins auf den Pelz brennen soll. Der Ombudsmann soll Vorwürfe gegen Beamte, Richter und Politiker bis hinauf zum Premierminister untersuchen können, und ihnen Strafklagen folgen lassen, statt sie lediglich zuhanden der Regierung zu empfehlen. „Werft die korrupten Politiker ins Gefängnis, und hängt sie auf!“, rief er seinen Zuhörern am Donnerstag zu, die schwache Stimme in eigenartigem Kontrast zur robusten Forderung.
Dann fügte er hinzu, als erinnerte er sich plötzlich an die Mahatma-Ikone hinter ihm: „Ihr wundert Euch sicher, warum ich von Erhängen spreche, obwohl ich ein Gandhianer bin. Aber die Lage ist heute so ernst, dass wir nicht nur Gandhi folgen müssen, sondern auch Shivaji“, dem Freiheitskämpfer der Mahratten, bekannt für seine stählernen Krallen-Handschuhe, mit denen er den Gegner umarmte – und ihm dabei den Rücken aufriss. Er erntete lauten Applaus, und die Batterie von Fernsehsendern sah zu, dass die Worte in alle Winde ausgestrahlt wurden.
69 Hours of Anna’s Hungerstrike
Am anderen Morgen glich ‚Jantar Mantar‘ einem Heerlager vor dem Aufbruch. Strasse und Trottoirs waren mit Matratzen bedeckt, auf denen viele der Hungerkünstler noch schliefen oder im Schneidersitz zusammensassen und sich Zeitungsartikel vorlasen. Freiwillige wischten die Flugblätter und kehrten Plastikflaschen zusammen. Andere zurrten die Banner zurecht, auf denen Studentengruppen und Gewerkschaften, Armee-Pensionäre und Bankangestellte Hazare ihrer Solidarität versicherten. Dieser wurde in einem Zelt hinter der Holztribüne von einem Arzt untersucht, während seine Genossen den Boden mit einem neuen weissen Leintuch bespannten, in Vorbereitung auf einen weiteren Kampftag.
Am Vorabend hatten sich mehrere Tausend Anhänger von hier zum Grabmal des Unbekannten Soldaten, dem ‚India Gate‘, begeben. Viele waren eine Woche zuvor hier gewesen, hatten sich mit Freudentränen zugewinkt und umarmt, aus Begeisterung über den Sieg Indiens im Cricket-Weltcup. Nun war die Feststimmung verflogen, die Hupkonzerte hatten der Stille einer Kerzenlicht-Prozession Platz gemacht.
Doch ausserhalb dieser Bannmeile nahm das Leben seinen Lauf. In den Fünfstern-Hotels wurde teuer Hochzeit gefeiert, und eine Schweizer Wirtschaftsdelegation, mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann an der Spitze, machte der aufstrebenden Wirtschaftsmacht ihre Aufwartung. Einer der Fernsehkanäle hatte die Multi-Realität Indien grafisch einprägsam ins Bild gebracht. In der rechten unteren Ecke des Bildschirms verzeichnete sie die Kurse der Börse von Bombay, und oben links stand: ‚69 Hours of Anna’s Hungerstrike‘. Beide verzeichneten einen Aufwärtstrend.