Vor dreissig Jahren, genau am 20. November 1989, verabschiedeten die Vereinten Nationen die Kinderrechts-Konvention (KRK). Die Schweiz ratifizierte sie acht Jahre später.
Krönung rechtsetzender Bemühungen
Nach der amerikanischen Revolution 1776 und der französischen 1789 mehrten sich die Rechte für Kinder. Bildung wurde schrittweise Pflicht. Gesetze schränkten die Arbeit von Kindern ein. Der Völkerbund genehmigte 1924 eine „Children’s Charter“. Die UN krönten 1989 die juristischen Bemühungen mit der „Konvention über die Rechte des Kindes“, die alle Mitgliedstaaten ratifizierten – mit Ausnahme der USA.
Die UN-Konvention verleiht den Kindern 40 Rechte. Kinder haben das Recht auf eine eigene Identität, auf Bildung, die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit, auf ein Privatleben, die seelische, geistige und körperliche Unversehrtheit, auf Gesundheit und Freizeit. Kurz: Die Kinder besitzen Ansprüche, die ihnen verantwortungsbewusste, erziehungsfähige und liebende Eltern auch ohne KRK erfüllen. Sie sind weltweit eine Minderheit.
Zivilisatorischer Durchbruch
Das Kind als Kind und als gottgeschenkter Sonnenschein ist ein moderner zivilisatorischer Durchbruch. Mit ihm beschäftigte sich der französische Historiker Philippe Ariès bestechend fundiert.
Von der Antike bis ins später Mittelalter existierten in unserem heutigen Sinne keine Kinder. Menschen jeden Alters lebten als Gleiche gemeinsam in der gleichen Welt. Eine Gefühlskultur für Kinder und ihre spezifische Daseinsform entwickelte sich erst zögerlich im 16. Jahrhundert.
Kinder nahmen völlig selbstverständlich an Ritualen, Spielen und Tänzen der Erwachsenen teil und bekamen die schlüpfrigen Witze und derben Anzüglichkeiten der Bediensteten mit. Rücksicht auf Kinder fehlte. Zur Aufklärung waren die Bienen im Blumenmeer als Unterrichtsbehelf entbehrlich, weil Knechte und Mägde im Heu die Blütenbestäubung didaktisch prima hinkriegten.
Emotionale Gleichgültigkeit
Erwachsene begegneten dem Nachwuchs mit emotionaler Gleichgültigkeit. Die Erklärung liegt in der geradezu epidemischen Kindersterblichkeit. Von hundert Neugeborenen starben siebzig vor dem 14. Geburtstag. Die hohe Mortalität nahmen die Familien als Schicksal hin. Verstorbene Kinder wurden nicht auf einem Friedhof beerdigt, sondern im Garten vor dem Haus vergraben. Sie erfüllten die Erwartung nicht, rasch und umstandslos erwachsen, arbeitsfähig und militärdiensttauglich zu werden.
Ausgerechnet ein Vater mit einer unseligen Jugend, der seine fünf Kinder in ein Findelhaus verstiess, erkannte vor allen anderen die Kindheit als von unschätzbar eigenem Wert: der geniale Feuerkopf Jean-Jacques Rousseau.
Mit seinem Roman „Emile oder Über die Erziehung“, erschienen 1762, betrachtet er die Pädagogik – ein sensationeller Salto vorwärts – aus der Optik der Kinder. Er betont die Notwendigkeit deren Selbstentfaltung, Herzensbildung und Hinführung zu gemeinsinnigen, patriotischen, guten Bürgern.
Besser ist nicht wirklich gut
Global und pauschal: Die Kinder leben heute besser. Ihre Sterblichkeit sank. Ihre Unterernährung ging zurück. Die HIV-Ansteckungen konnten eingedämmt werden. Die Mehrheit der Mädchen und Buben besucht die Primarschule.
Indessen und rot unterstrichen: Besser bedeutet nicht wirklich gut. Wir blicken auf die Strände des Mittelmeers und sehen ertrunkene Kinder. Wir blicken durch Stacheldrahtzäune in Kindergesichter. Wir blicken in Spitäler auf schwerverletzte und medizinisch jämmerlich betreute Kinder. Wir blicken in die Regale unserer Einkaufszentren und leiden unter der Qual der Wahl, doch Millionen von Kindern unter der Qual des Hungers.
Sie leiden auf der Flucht, unter Schlägen, Missbrauch, Vernachlässigung, mangelnder Hygiene, Diskriminierung, Heiratszwang, Arbeitszwang und unter bewaffneten Konflikten.
Weit von uns entfernt. Gar nicht weit entfernt ist die Realität, dass in der Schweiz mehr als 70’000 Kinder unter der Armutsgrenze leben und mehr als 200’000 diese Gefahr ernsthaft droht. Auch in der Schweiz werden Kinder vernachlässigt, geschlagen und von kriminellen Banden in die Pornografie, die Prostitution, die Bettelei und in die Ehe gezwungen.
Superlativer Wohlstand
Das Elend hierzulande verbirgt sich hinter beruhigenden Zahlen. Es gibt in der Schweiz 2’300 Kinderärzte, 500 Kindertagesstätten, 260 Kinderheime, mindestens 2’600 verschiedene Kinderkuscheltiere, 250 Kinderwagenmodelle und 200 Kinderrucksacktypen. Es gibt neben kindergerechter Frottierwäsche und Kosmetik auch Modeschauen und Knigge-Kurse für Kinder.
Die Zehn Gebote umfassen 279 Wörter, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung bringt es auf 300, der Ratgeber der „Eltern“-Zeitschrift für die Reinigung der Nuggi auf 1’000 und die schweizerischen Richtlinien für Kindertagesstätten auf 4’600.
Neben der Pro Juventute, der Stiftung SOS-Kinderdorf, dem Kinder-Spitex-Verein, der Pflegekinder-Aktion, der Stiftung Kinderhospiz, der Aladdin-Stiftung und der Ferien für Kinder in Not gibt es 480 weitere Stiftungen, die sich dem Kindeswohl verschrieben haben – nicht zu vergessen die KESB.
Pädagogischer Wahnsinn
Heerscharen von Eltern rüsten auf zum Erziehungswahnsinn. Sie widmen die Wochenenden den Hausaufgaben, tragen ihren Prinzesschen und Prinzchen die Znünibrote wie lebenswichtige Medikamente hinterher, erkundigen sich nach dem Härtegrad der Matratzen in der Ferienkolonie, schicken wegen schlechter Noten Anwälte in die Lehrerzimmer und lassen nichts aus, ihre Knirpse bereits in den Pampers ans vermeintlich elementare Menschenrecht auf Vergötterung zu gewöhnen.
Katalog der Defizite
Aber gleichwohl bleibt die Tatsache, dass die Schweiz die KRK noch nicht umfassend einhält. Zu den Defiziten zählen etwa die vollständige Trennung von Minderjährigen und Erwachsenen während eines Freiheitsentzugs, das ungenügende Wissen um die Kinderrechte von Personen, die mit und für Jugendliche arbeiten, die mangelnden finanziellen Anreize zur Förderung der Partizipation von Kindern und der Schutz der Kinder vor jeglicher Form von Gewalt.
Es gilt, die Fremdplatzierung von Kindern im Sinne der KRK zu optimieren, die Situation der Kinder mit einem inhaftierten Elternteil zu verbessern und Kinder mit Autismus-Spektrums-Störungen durchwegs fachgerecht zu behandeln. Ungelöst ist das Problem, Kindern, deren Eltern die Krankenkassenprämien nicht bezahlen, die medizinische Versorgung zu sichern.
Das Jubiläum des dreissigjährigen Bestehens der UN-Kinderrechts-Konvention möge also nicht nur gefeiert, sondern auch zum Anlass genommen werden, die Defizite zügig abzubauen. Das ist nicht nur Sache der Behörden und Kinderorganisationen, sondern eine menschenwürdige Verpflichtung für alle.