Nicht der Gigantismus etwa des Basler Roche-Turms soll Massstab für zukunftsgerechtes Bauen sein. Als Muster dienen Projekte, die sich den Herausforderungen der Zukunft stellen, die da sind: Klimaerwärmung, Ressourcenknappheit, Zersiedelung, Zerstörung des Gewachsenen.
Die neugegründete Stiftung Architektur Schweiz SAS präsentiert das erste Swiss Architecture Yearbook SAY, das in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Architekturmuseum in Basel, dem Bund Schweizer Architektinnen und Architekten BSA und der Zeitschrift «werk, bauen + wohnen» entstanden ist. Gleichzeitig ist in den Räumen des Museums eine Ausstellung zum Buch eingerichtet worden, die später auf Wanderschaft geschickt wird.
Für die Auswahl der schliesslich im Buch veröffentlichten Werke ist ein enormer Aufwand betrieben worden. Da wurde zunächst ein Auswahlkomitee bestimmt, das danach unter der Leitung von Peter Cachola Schmal, dem Kurator des Deutschen Architekturmuseums Frankfurt, rund vierzig Fachkräfte ernannte. Diese hatten die Aufgabe, je fünf zwischen Sommer 2020 und Sommer 2022 realisierte Bauten für eine nähere Auswahl vorzuschlagen, wobei alle Regionen der Schweiz berücksichtigt werden sollten.
Man einigte sich schliesslich auf 129 Arbeiten, deren Informationen nach einem vorgegebenen Layout auf A2-Tafeln übertragen wurden. Zwei Tage begutachteten die Experten die Projekte, um am Ende deren 36 für das Jahrbuch auszusondern. In der Ausstellung ist die für die Jurierung geschaffene Kulisse mit Stühlen, an beziehungsweise auf denen die Tafeln aufgestellt wurden, rekonstruiert worden.
Trotz der hehren Hoffnung, mit der Publikation einen adäquaten Querschnitt architektonischen Schaffens in der Schweiz darzulegen, konnten gewisse Asymmetrien nicht vermieden werden. Nicht weniger als 23 Artefakte stammen aus Basel, weitere acht aus Zürich und 19 aus dem Grossraum Genf-Lausanne, das sind fast 40 Prozent aller Eingaben.
Auffällig ist, dass Monumentalbauten weitgehend fehlen, sieht man vom Roche-Turm ab, der jedoch überraschenderweise keine Aufnahme ins Jahrbuch fand. Manon Mollard, Mitglied des Auswahlkomitees, deutet in seinem Aufsatz an, warum der Turm aussen vor blieb. Er präge zwar das Stadtbild, sei aber nicht öffentlich zugänglich, verschliesse sich und sei nur auf sich bezogen. Zwischen den Zeilen kann die Kritik an dieser visuellen Machtdemonstration des Pharmariesen herausgelesen werden.
Für Andreas Ruby war in Bezug auf die Lancierung eines schweizerischen Jahrbuches insbesondere der Aspekt wichtig, mit einer solchen Publikation die hiesige Architekturszene international besser bekannt zu machen, weil seiner Meinung nach die Schweiz in der internationalen Architekturszene zu wenig zur Kenntnis genommen werde. Doch trifft diese Einschätzung auch zu? Die Schweiz weist einige Baumeister auf, die den Status von Weltstars haben. Das Wertvolle bei dieser Ausgabe ist die inhaltliche Ausrichtung, die den opulenten Band zu einem mutigen Statement für eine umfassende Neuorientierung des Bauens macht.
Im Buch sind die 36 Projekte in acht thematische Kapitel aufgeteilt, die von je einem längeren erläuternden Text gerahmt werden. Die Stossrichtung überrascht, denn präsentiert werden keineswegs formal aufwändige Entwürfe, um die sich die Hochglanzmagazine reissen, sondern Resultate von Bemühungen, die sich den Herausforderungen der Zukunft stellen, die da sind: Klimaerwärmung, Ressourcenknappheit, Zersiedelung, Zerstörung des Gewachsenen.
Es wird damit deutlich, dass immer mehr Architektinnen und Architekten die berechtigte Kritik an einem Bauwesen, das seinen Anteil am CO2-Ausstoss kleinredete, ernst nehmen. Eingeleitet wird die Sammlung mit Beispielen für klimafreundliches Bauen, mit der Analyse von Werkstoffen als Alternativen für den besonders klimaschädlichen Zementbeton. Nebst Holz, das in den letzten Jahren eine erstaunliche Renaissance erlebte, ist die Rede von Lehm, aus dem der Ofenturm des Ziegeleimuseums Cham besteht, und von Hanfbeton, für den sich ein Zürcher Team bei einem Projekt in Serbien entschieden hatte.
Die zunehmend kontrovers diskutierte Verdichtung wird mit zwei Wohnhäusern dokumentiert, die in Innenhöfen errichtet wurden. Ein weiteres Kapitel ist den Erweiterungen bestehender Bausubstanz gewidmet, was einhergeht mit den Forderungen von Umweltverbänden, die Abrissbirne weniger exzessiv schwingen zu lassen.
Anhand der Sanierung des Zürcher Kongresszentrums und der gigantischen Wohnanlage Le Lignon in Genf wird der Beitrag der Denkmalpflege gewürdigt. Und als ob man die Sucht nach immer spektakuläreren Monumenten konterkarieren wollte, werden im Kapitel mit dem Titel «Dorfgeschichten» drei unauffällige Bauten für die Gemeinschaft in abgelegenen Siedlungen vorgestellt, welche die Entwicklung in strukturschwachen Regionen fördern sollen.
Beim Blick über die Landesgrenzen ist der Hinweis auf den spartanischen Schuppen am Hawkesbury River in Australien, der dem Architekten Leopold Banchini als Atelier dient, geradezu eine Antithese zur Gigantomanie etwa in chinesischen Metropolen, in denen sich auch Schweizer Architekten gerne betätigen.
Das Jahrbuch ist mehr als ein Rückblick, es enthält eine klare Botschaft für ein nachhaltiges Bauen und wird dadurch zu einem wertvollen Manifest. Damit wird die Latte für künftige Ausgaben – solche sind in einem zweijährigen Rhythmus geplant – sehr hochgelegt. Zwar wurde in diesem Fall der Grundstein für stabile Rahmenbedingungen gesetzt, doch gleichwohl ist eine erfolgreiche Kontinuität nicht garantiert, sei es, weil massgebende Projektleiter nicht mehr zur Verfügung stehen, oder sei es, weil die finanziellen Zuwendungen ausbleiben. Es sei an den höchst interessanten Architekturpreis «Neues Bauen in den Alpen» durch «Sexten Kultur» erinnert, der zwischen 1992 und 2006 nur viermal verliehen wurde. Der Start des Unternehmens SAY ist geglückt; nun ist Ausdauer erforderlich.
Die Ausstellung im Schweizerischen Architekturmuseum in Basel dauert noch bis 5. November. Acht weitere Stationen sind bereits festgelegt.
SAY Swiss Architecture Yearbook 2023, Park Books Zürich 2023