Mit dem Befund der Vieldeutigkeit dessen, was unter «Liberalismus» und «liberal» verstanden werden kann, eröffnet René Rhinow sein «Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus». Wie der Untertitel bezeichnet die Hauptüberschrift des Buches die entscheidenden Orientierungspunkte der Untersuchung – Freiheit in der Demokratie.
Was also heisst «Liberalismus», wenn er – erstens – sehr verbindlich auf die Idee der gleichen Menschenrechte aller und – zweitens – auf das Problem bezogen ist, wie individuelle Selbstbestimmung im demokratischen Staatswesen gut und gerecht – «menschenwürdig» eben – verwirklicht werden kann?
Die politische Philosophie des Liberalismus kennt Väter, Grossväter, einige etwas zweifelhafte Urgrossväter; und auch die eine oder andere Mutter. Dem entsprechend sind viele, meistens durch die für geistige Fortpflanzung typischen Methoden der Gedankenrekombination entstandene, unterschiedlich verwandte Kinderscharen zu beobachten. Um die bunte Bande mit Eigennamen zu markieren, will ich ein paar nennen: Bei den Grossvätern finden sich Gestalten wie John Locke, Adam Smith und Immanuel Kant als die überragenden Gründerfiguren der ganzen Bewegung. Ein Urgrossvater mit ambivalenter Ideenlehre und Wirkungsgeschichte ist Thomas Hobbes. Zu den Vätern diversester Familienverzweigungen (vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart) gehören ältere Herren wie Jeremy Bentham, John Stuart Mill, Benjamin Constant und jüngere wie Isaiah Berlin, Friederich von Hayek, Milton Friedman; aber auch Richard Rorty, Ralf Dahrendorf, sowie die Gruppe der von mir besonders geschätzten bundesrepublikanischen «Ritter-Schüler».
Hinsichtlich der Mütter kommen jedenfalls Namen wie derjenige der grimmigen Ayn Rand, der der unbestechlichen Hannah Arendt oder der sozialliberalen Martha Nussbaum in den Sinn. Mit diesen Listen verbindet sich zweierlei. Erstens gibt es so etwas wie eine, das Ganze verbindende, liberale Familientradition und -ähnlichkeit. Doch zweitens existiert weder eine exakte «Thronfolge», noch ein legitimes «Zivilstandsamt» oder eine zuständige «Passbehörde», die geneologisch verbindliche Identitätsausweise ausstellen dürften. Liberale sind eine Spezies, die sich präzisen Taxonomien nicht fügen.
Keine Ideologie und gefestigtes Lehrgebäude
Wer erwarten würde, dass angesichts dieser allzu vertraut anmutenden Begriffsreihe (Freiheit, Demokratie, Menschenrechte …) nichts als langweilige Gemeinplätze zum Vorschein kommen, wird aufs Beste – nämlich anregend und argumentativ überzeugend – enttäuscht. Denn Rhinow ist zwar bereit, die Vielfalt, ja Gegensätzlichkeit liberaler Positionen und Perspektiven anzuerkennen, doch seine Ausrichtung auf die genannten Orientierungslinien sorgt für eine Suche nach der richtigen Balance und Synthese zwischen den diversen, schärfer gesagt: kontroversen «Liberalismen», die die Lektüre für jede Leserin, jeden Leser immer wieder interessant macht.
Der Autor verwendet die Metapher des «Kompasses» und der entsprechenden Pfadsuche, um sein Verfahren und sein liberales Selbstverständnis zu charakterisieren: «Dass Liberale oft nicht dasselbe unter Liberalismus verstehen, ist insofern nicht weiter verwunderlich, als der Liberalismus keine Ideologie, kein gefestigtes Lehrgebäude und keine Anleitung für die Lösung aller Probleme darstellt, sondern eine politische Philosophie, eine offene Denkrichtung, vergleichbar mit einem Kompass, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt.»
Das leuchtet ein, doch die Tatsache der Widersprüchlichkeit im liberalen Definitionsproblem vermag dieser Vorschlag nicht zu heilen. Rhinows sehr elementare Zielvorstellung eröffnet nämlich Politiken und normative Bereitschaften, die diejenigen fast immer bestreiten, die sich selbst als «klassische Liberale» begreifen und als Parteigänger der sogenannten «Wiener Schule» letztlich allein im modernen Staat die zentrale Bedrohung der Freiheit erkennen können. – Eine Zitatmontage bringt die Kontradiktion auf den Punkt:
Im neuesten Informationsbulletin des «Liberalen Institutes» ist an besonders exponierter Stelle Folgendes zu lesen: «… Alle Macht unterliegt dem Missbrauch, und je grösser die Macht, desto grösser die Wahrscheinlichkeit des Missbrauchs. Aus diesem Grund sollten dem Staat nur minimale Befugnisse eingeräumt werden. Allerdings war die Neigung jeder Regierung stets, selbst die minimalen Befugnisse dazu zu nutzen, ihre Zuständigkeiten auszuweiten. Und jede Regierung wird mit Sicherheit grosse Kräfte aufwenden, um noch grössere Vollmachten zu usurpieren …»
Auf den ersten Blick scheint Rhinows liberale Kompasslinie dieser radikalen Staatskritik nicht generell zu widersprechen: «Der Liberalismus hat ein einziges übergeordnetes Ziel – diejenigen politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung der persönlichen und kommunikativen Freiheit aller notwendig sind.» Die Gegensätzlich-, ja Unversöhnlichkeit wird freilich klar, wo Rhinows Folgerungen aus seiner Zielvorstellung explizit werden. Etwa im Abschnitt über die «soziale Freiheit». Denn dort wird zweierlei unübersehbar: Erstens, dass die «Freiheit aller» nicht zuletzt die Aufmerksamkeit für die Schwächsten der Gesellschaft verlangt, und zweitens, dass keineswegs nur staatliche, sondern eben auch nichtstaatlich-gesellschaftliche, also private Akteure freiheitsbedrohende Macht auszuüben imstande sind.
Polemische Kritiker sprechen von «Semisozialismus»
Rhinow bekennt sich zu einem inklusiven, die Unterschiedlichkeit der materiellen Bedingungen berücksichtigenden, republikanischen Freiheitsverständnis: «Der Mensch ist frei, wenn er eine Wahl treffen kann, ohne vom Wohlwollen oder von der Erlaubnis Anderer abzuhängen, und als Gleichgestellter die Macht besitzt, sich gegen eine Einmischung Dritter zur Wehr zu setzen. Diese Freiheit hängt von materiellen und immateriellen Voraussetzungen wie etwa Wohnsitz, Arbeit, Behausung, Mindesteinkommen und Zugang zu Bildung ab.»
Dem entsprechend will er die seit Isaiah Berlin oft zitierte und beinahe kanonisch gewordene Unterscheidung zwischen «negativer» (vor allem gegen die Staatsmacht gerichteter) und «positiver» (der gemeinsamen gesellschaftlichen Ordnung verpflichteter) Freiheit durch das Tertium der «sozialen Freiheit» ersetzen: «Aus der Sicht eines menschenwürdigen Liberalismus ist eine Person frei, soweit sie nicht durch externe soziale Zwänge gehindert ist, nach ihrem eigenen Lebensentwurf zu handeln, und wenn sie über die nötigen sozialen Ressourcen verfügt, die es ihr ermöglichen, von der Freiheit in einem menschenwürdigen Ausmass Gebrauch zu machen.»
Es ist kaum zu bezweifeln, dass ein derartiges Argument von Anhängern des staatskritischen Liberalismus beinahe automatisch mit dem Prädikat «Semisozialismus» oder «Weichsinn» vergolten wird. Das weiss auch Rhinow – und umso entschiedener verweist er auf das geltende eidgenössisch-schweizerische Verfassungsverständnis: «Das Konzept der sozialen Freiheit entspricht einem Verständnis der Freiheit als konstituierendem Element des liberalen Staates, wie es auch der schweizerischen Bundesverfassung zugrunde liegt. Es widerspiegelt sich in der Doppelnatur der Grundrechte (Hervorhebung: GK) als Abwehrrechte und Grundlage staatlicher Schutzpflichten im Sinn objektiv-rechtlicher Grundrechtsgehalte.»
Die Diagnose der Zweiseitigkeit der fundamentalen Normen unserer rechtsstaatlich-liberalen, dem Gedanken der freiheitsfunktionalen Gleichheit verpflichteten Demokratie macht unübersehbar, dass hier das Prädikat «liberal» den Sinn hat, den Staat a priori auch auf die Freiheitssicherung materiell unterschiedlich begabter Individuen zu verpflichten. Wobei ihm zugleich zugetraut wird, dabei nicht die richtigen Balancen zu verlieren; nämlich wegen und innerhalb der Form einer pluralistischen Demokratie, die es erlaubt (aber auch fordert), dass sich die verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte mithilfe der Organisation von politischen Parteien und Interessenvertretungen in Prozessen der Güterabwägung und Kompromissbildung auf Lösungen einigen. Ein Vorgang, der nie ein für allemal abgeschlossen ist, aber stets von neuem und von Fall zu Fall erfolgreich geschieht.
Diesem «Liberalismus der Konkordanz», der sich im Widerstreit und Austragen der Differenzen erneuert und lebendig bleibt, schenkt Rhinow, wo immer nötig, sein besonderes Augenmerk. Vom Konnex zwischen liberaler Geisteshaltung, rechtsstaatlicher Machtbändigung und gelingender Demokratie handelt sein Plädoyer auch noch dann, wenn es um die politische Integration der Bürger und Bürgerinnen in der postmigrantischen Gesellschaft der Gegenwart geht.
Wirtschaftsliberalismus und Verfassungsliberalismus
Mit diesen Bemerkungen ist der Gedankenreichtum von Rhinows Buch einigermassen angedeutet, aber bei weitem nicht ausgeschöpft. Beeindruckend umfassend ist beispielsweise der Anmerkungsapparat und die dazu konsultierte Literatur; deutlich wird die breite Tradition der von Rhinow vertretenen Liberalismusidee, die viele zeitgenössische Zuschüsse besitzt. So wird etwa auf die Theorie der amerikanischen Philosophin Martha Nussbaum verwiesen, wenn es darum geht, genauer zu erläutern, wie der prinzipiell von allen Liberalen bejahte Grundsatz der «Chancengleichheit» näher zu verstehen ist.
Freilich ist an dieser Stelle auch ein (wohl nicht zufälliges) Manko zu notieren. Gänzlich ausgespart wird vom Autor die Auseinandersetzung mit der von den Vertretern des Wirtschaftsliberalismus hoch geschätzten politischen Ökonomie in der Nachfolge Josef A. Schumpeters oder Anthony Downs’. Ihre Analysen behandeln nämlich genau die für Sozialliberale heiklen Punkte: das Eigeninteresse des politischen Personals in der fortgeschrittenen Berufsparlamentarier- und Wohlfahrtsstaatsdemokratie der Gegenwart und der daraus resultierende Inflationstrend öffentlicher Budgets – Dinge, die von wirtschaftsliberaler Seite meist unter dem Stichwort des «beängstigenden Wachstums der Staatsquote» abgehandelt werden.
Es sind solcherart empirisch tragfähige Befunde, die die – nach eigener Auffassung – «klassischen» Liberalen ins Feld führen, wenn sie – nicht selten sehr gereizt – dem auf die Realisierung der Menschenwürde zielenden Liberalismus Rhinow’scher Prägung „Semisozialismus» vorwerfen und ihm ökonomisch naive «Gutmenschlichkeit» diagnostizieren.
Mit der Erinnerung an diese Bruchlinie gerät man zurück zum Beginn: zur turbulenten Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit im Verwandtschaftsraum der liberalen Familie. Und man kommt nicht darum herum, sich zu fragen, ob die mittlerweile herrschenden Antagonismen nicht derart heftig geworden sind, dass – metaphorisch gesprochen – statt von Familienstreitigkeiten besser von Stammesfehden zu reden wäre.
Einen Vorschlag zur Güte möchte ich immerhin riskieren; festzumachen an der Gegenüberstellung von Partei- und Verfassungsliberalismus.
Unter Bedingungen des Parteienwettbewerbs in der pluralistischen Demokratie muss eine liberale Partei heute vor allem ihr Profil, ihr Alleinstellungsmerkmal schärfen; und zwar nicht zuletzt im Gegensatz zur sozialdemokratischen Anspruchslinie, die nach der sozialistischen Abkehr vom Marxismus (nicht nur, aber auch) sozialliberale Postulate verfolgt. Darum ist für den Parteienliberalismus die Annäherung an markt- und wirtschaftsliberale Einseitigkeiten im Grunde unausweichlich.
Der von Rhinow eindrucksvoll entfaltete Verfassungsliberalismus hingegen ist von Anfang an auf derjenigen basalen Ebene angesiedelt, die so etwas wie die pluralistische Parteienkonkurrenz überhaupt erst ermöglicht. Er formuliert damit nichts anderes als die Essenz – die zentralen Werte und Institutionen – dessen, was, immer noch, den sogenannten «Westen» ausmacht und nicht nur in unseren Tagen mit allem Nachdruck zu verteidigen ist.
René Rhinow: Freiheit in der Demokratie. Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus.
Hier und Jetzt. Verlag für Kultur und Geschichte, Zürich 2022, 232 S.