Samstagmorgen, Taj Mahal Hotel. Die Lobby sah aus wie ein Besammlungsplatz. Touristen standen in kleinen Gruppen um eine Kohorte lokaler Reiseleiter herum. In Kürze würden sie die Komfortzone des luxuriösen Verteidigungswerks mit dem Lärm, Staub und Abfall der Grossstadt Bombay vertauschen. Vielleicht würden sie sich bei ihrem geballten Ausfall in die gefährliche Stadt sogar den menschenunwürdigen Verhältnissen des Dharavi-Slums stellen, das immer öfter auf den Reiseplänen auftaucht.
Im ersten Stock wurde ebenfalls über Armut verhandelt. Der Crystal Room des Taj ist sozusagen die Bel Etage der städtischen Elite. Dort feiert sie Hochzeiten, folgt Christies’ Auktionen, dort preisen Bankiers den UHNWIs attraktive Anlageprodukte an. (Für Uneingeweihte: UHNWIs sind Ultra High Net Worth Individuals, mit einem Nettowert von mindestens dreissig Mio.Dollar).
Arm und reich - eng beieinander
Auch an diesem Samstag waren einige UHNWIs zugegen, wie nicht anders zu erwarten in einer Stadt, die über eintausend UHNWIs verfügt und ein Viertel der 111 indischen Dollar-Milliardäre. Unerwartet allerdings war der Anlass: Die Stiftung DASRA führte ihren jährlichen Philanthropy Day durch. Wie die meisten Teilnehmer zeigten die beiden Stiftungsgründer – das Ehepaar Neera Saraogi und Dewal Sanghavi – mit der Wahl des Tagungsorts, dass Reichtum keine Berührungsangst im Umgang mit der Armut zu haben braucht.
Denn im Unterschied zu andern Ländern leben die meisten Reichen in Bombay (noch) nicht in Ghettos. Freunde aus der Schweiz waren erstaunt, wie nahe beieinander Reiche und Arme hier wohnen. Luxustürme wachsen aus Slumniederungen, und beste Wohnlagen sind von Hütten durchsetzt. Zwar versprechen die ganzseitigen Inserate für Luxuswohnungen das Meer als einzigen Horizont, doch auch diesen Galacticos bleibt die Fahrt durch die Slums zum Flughafen nicht erspart. Helikopter-Taxis à la Sao Paulo sind in Bombay verboten.
Transaktionale Selbstverständlichkeit
Wir Europäer zucken bei solchen Konfrontationen zusammen, sind empört über die Indifferenz der Einen und verärgert über den Gleichmut der Habenichtse. Es sind ja nicht nur die Reichen, die die Armut um sich herum verinnerlicht haben. Die Armen tun dasselbe mit dem Reichtum, falls das Verhalten der Bettler ein Indiz ist. Viele projizieren ihr Elend nicht mehr mit flehender Stimme und weinenden Babies, sondern mit transaktionaler Selbstverständlichkeit. Ein deutscher Freund wurde auf dem Colaba Causeway von einem zehnjährigen Mädchen an der Hand genommen und in den Gemischtwarenladen Sahakari Bhandar geführt. Sie legte ihm Reis, Zucker und Tee in den Einkaufswagen und führte ihn an die Kasse. Dann verabschiedete sie sich, mit einem Lächeln, Kopfwackeln – und den Einkäufen.
Visaba Godrej, eine junge Frau, für die wohl die Kategorie Ultra-UltraHNWI erfunden werden müsste, erzählte beim Dasra-Event, wie sie als kleines Mädchen lernte, Bettlern nichts zu geben: Ihre älteren Cousins hatten sie aufgeklärt, dass dies seien eben nicht richtig Arme seien; eine Mafia stecke dahinter und schicke Kinder auf die Strasse, um mitleidheischend an Geld zu kommen.
"Gutes Geld", "dirty money"
Es ist ein Abwehr-Mechanismus, den Tausende von privilegierten Kids – und viele ausländische Touristen – verinnerlicht haben. Interessanter ist die Frage, warum eine junge reiche Frau dieses Cliché an einem solchen Classy Event äussern musste. Ms.Godrej’s Antwort: Heute wisse sie, dass es ein billiger Vorwand war, um sich nicht mit dem Armutsgefälle auseinanderzusetzen; ihr sei klar, dass sie sich dieser Realität stellen müsse.
Das ist auch die Meinung der Dasra-Gründer. Ein Satz wie ‚Wer reich ist, kann nicht gut sein’ (ich las ihn kürzlich als Zitat in einer Theater-Rezension der NZZ) würde Deval Sanghavi eher belustigen als betroffen machen. Für ihn ist philanthropisches Geben eine „Force for the Good“. Warum, fragt er, ist Kapital in Form von Steuergeldern „gutes Geld“, wenn es in staatliche Armutsprogramme fliesst; aber wenn begüterte Leute NGOs unterstützen, soll es plötzlich dirty money sein?
"Gewinnbringend einsetzen"
Im Gegenteil, es ist oft besser angelegtes Geld. Die NGOs werden sorgfältiger ausgewählt, die Wahl der Interventionsbereiche – Gesundheit, Erziehung, Wohnen, Umwelt, Hygiene – fällt oft aufgrund von Analysen und strategischen Prioritäten. Das ist denn auch das Geschäftsfeld, in dem sich Dasra positioniert hat. Die Organisation wählt NGO-Partner aus und hilft ihnen, ihre Prozesse und Strukturen besser auf die gesetzten Ziele auszurichten.
Mit diesem Portefeuille von dringenden Themen und potentiellen Projektpartnern wendet sie sich dann an Stiftungen, reiche Personen und Familien, die bereit sind, ihr Geld ‚gewinnbringend’ einzusetzen – wobei Gewinn in diesem Fall heisst: ein besseres Gesundheitsprofil von armen Familien, sauberes Trinkwasser, Toilettenzugang, Schulbesuch von Mädchen, Schutz vor häuslicher Gewalt, Bau von Latrinen, interaktive Curricula, Frauen mit Zugang zu Kleinkapital. Für Dasra darf diese Erkenntnis durchaus im Taj Mahal Hotel vermittelt werden, solange dabei auch die bittere Pille struktureller Armut geschluckt wird.
Philanthropische Revolution
Der Erfolg einer Organisation wie Dasra lässt vermuten, dass sich in Indien eine philanthropische Revolution anbahnt. Sie wird Einstellung und Verhalten im Armutsdiskurs vermutlich tiefgreifend verändern. Mehrere Faktoren treiben diesen Wandel voran. Zum ersten Mal in der Geschichte des unabhängigen Indien verfügen viele Haushalte – Crédit Suisse schätzt sie auf 26 Millionen – über einen Wohlstand, der sie von der eigenen Existenzsorge befreit. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass dieses Manna nicht gleichmässig vom Himmel fällt. Das komfortable Cliché von der steigenden Flut, die alle Boote anhebt, ist offensichtlich deplatziert. Die Realität der Armut – sichtbar etwa bei den (offiziell 150'000) Bauernselbstmorden zwischen 2005 und 2014 – paart sich mit der Frustration über das Versagen des Staats, effektiv einzugreifen und die wachsende Ungleichheit auszugleichen.
Dieser Graben nährt den Boden für Philanthropie. Im letzten Jahr allein, so erklärte Sanghavi, flossen 530 Milliarden Rupien von Geber-Konti in NGO-Programme, umgerechnet 9 Mia. Dollar. Er konzedierte, dass beinahe zwei Drittel davon (330 Mia.Rs.) von fünf Einzelpersonen beigesteuert wurden. Aber ist diese Zahlenkoppelung von klein und gross nicht ein Indiz, fragte Sanghavi, dass das Potential für zielgerichtetes Geben damit nur angekratzt ist?
Plötzlich ein grau gesprenkeltes Pferd
Der Tag liess, wie oft in diesem Land, das paradoxe Gefühl zurück, in einer Komfortzone aus einer anderen vertrieben worden zu sein. Doch dann liess uns Indien ebenso unverhofft eine neue finden, und dies wie so oft dort, wir sie nicht vermuteten. In diesem Fall fanden wir sie im Nariman Point.
Es war spätabends, und die Wall Street von Bombay schien sich umgestülpt zu haben. Die Bürotürme lagen lichterlos und schwarz im Hintergrund. Davor, zwischen parkierten Autos, hupenden Taxis und Essbuden hatte sich ein Jahrmarkt eingerichtet, ohne den üblichen Budenzauber. Es waren nackte Metallgestelle von Karussellen, die waagrechte, senkrechte oder schiefe Räder schlugen, Bootsattrappen, die hin und herschaukelten. Sie wurden alle von Hand in Bewegung gehalten und gestoppt, sobald wieder ein Kind Platz nehmen wollte. Ein Züglein mit gespenstischen Walt Disney-Figuren kreiste lautlos um einen Fünfmeter-Radius.
Mitten in diesem Durcheinander von Musik und Hupen, Lichtern und Abfall – ein Fellini-Moment: Zwischen Autos und Gestellen tauchte plötzlich ein grau gesprenkeltes Pferd auf, das ein winziges Kind trug. Es sass aufrecht im Sattel und schien völlig allein zu sein, ohne einen Anflug von Freude oder Angst. Es verschwand im Dunkel, noch bevor wir mit rätseln beginnen konnten.
Als wir uns der Verzauberung dieser zauberlosen Kirchmess endlich entziehen wollten, kamen die obligaten Bettlerkinder gelaufen. Sie riefen nicht weinerlich ‚No Mama-No Papa’. Stattdessen wiesen sie hüpfend und drängend auf das aufgeblasene Gummi-Haus im Hintergrund, in dem Kinder begüterter Eltern über eine Rutschbahn herunterpurzelten. Sie wollten Eintrittsgeld. Auch sie wollten mitspielen.