Beide Ereignisse wurden von Millionen und Abermillionen von Fernsehzuschauern verfolgt. Nicht überraschend deshalb: Staats- und Parteichef Hu Jintao und Premier Wen Jiabao gaben sich die Ehre. Zur Förderung von Stolz und Selbstbewusstsein der Nation.
Dutzende von Millionen von Zuschauern starrten am Freitag gebannt auf den Bildschirm. Live wurde die Landung der Raumkapsel Shenzhou IX – übertragen. Dreizehn Tage lang waren drei Taikonauten, darunter die erste Taikonautin Liu Yang, nach einem perfekten Start in der Wüste Gobi hundert Kilometer über der Erde im All und vollführten erfolgreich manuelles und automatisches Andocken an Tiangong-1 (Himmelspalast).
Bis ins Jahr 2020 soll daraus eine eigene, chinesische Raumstation werden. Zum höheren Ruhm der Nation. Die Taikonauten entstiegen der Kapsel lächelnd und winkend. Die Nation war gerührt. Der Kommandant Jing Haipeng dankte der Partei und rühmte sein „Mutterland“. Wang Zhaoyao, Chef des chinesischen Raumprogramms brachte es auf den Punkt: „Für eine grosse Nation ist ein bemanntes Raumprogramm unerlässlich, denn es bringt wissenschaftliche Fortschritte und fördert den Stolz des Volkes“. Premier Wen Jiabao lobte im Kontrollzentrum die Shenzhou-Besatzung über allen Klee und beteuerte zuhanden der internationalen Gemeinschaft, das chinesische Raumfahrprogramm sei offen und transparent.
Nur die Nordkoreaner könnten es besser
Szenenwechsel. Ebenfalls am Freitag und ebenfalls vom Fernsehen übertragen: Im perfekt sitzenden, dunkelgrauen Mao-Anzug nahm Chinas Staats- und Parteichef in der Hongkonger Shek-Kong-Kaserne die Parade der Garnison der Volksbefreiungsbewegung ab. Aufrecht im offenen Auto stehend fuhr er zunächst die Truppenkörper der stramm stehenden Soldaten und Soldatinnen der Marine, Luftwaffe und Landarmee ab. Hu bellte immer wieder markige Worte in ein Mikrophon. Tausendfach kam es unisono zurück. Danach paradierten in zackigem Stechschritt die Truppen. In Perfektion. Nur die Nordkoreaner können es besser.
In der Regel sind Chinas Politiker und Spitzenkader westlich gekleidet. Wie es sich gehört mit Anzug und Krawatte. Wenn es aber ernst wird – was selten vorkommt – dann ziehen die roten Mandarine den aus feinstem Tuch massgeschneiderten Mao-Anzug über. Und am Wochenende war es wohl wieder einmal ernst. Die Sonderverwaltungs-Zone Hongkong beging mit grossem Staatspomp den 15. Jahrestag der Wiedereingliederung der britischen Kronkolonie ins Reich der Mitte. In korrektem Partei-Chinesisch ausgedrückt handelt es sich um die „Rückkehr Hongkongs zum Mutterland“.
“Hundert Jahre Schande“
Wenn es um Hongkong oder ums „Mutterland“ geht, sind chinesische und westliche Sichtweisen – um es milde auszudrücken – nicht kongruent. In China ist Hongkong Symbol für die im 19. Jahrhundert mit den Kolonialmächten abgeschlossenen „ungleichen Verträgen“. Aus Geschichtsbüchern lernen die Schülerinnen und Schüler von den „hundert Jahren der Schande“. Dieses Gefühl ist beim Laobaixing, dem Durchschnitts-Chinesen, allgegenwärtig. Die allmächtige Partei nutzt dieses emotionale Faktum, um in Ermangelung anderer übergeordneter Werte - der Marxismus-Leninismus und das Maodse-Dong-Denken sind längst passé – den Zusammenhalt des Volkes und die Bedeutung der Nation zu festigen. Die Botschaft: wir sind wieder das, was wir einmal waren, nämlich eine grosse Kulturnation mit politischer und wirtschaftlicher Weltgeltung.
Im Westen dagegen sorgte man sich vor fünfzehn Jahren um die „Demokratie“ in Hongkong. Der letzte britische Gouverneur, Chris Patten, entdeckt nach fast 150-jähriger autoritärer Kolonialherrschaft für die Bewohner Hongkongs plötzlich das Mitbestimmungsrecht des Volkes und forderte umgehend „demokratisch Wahlen“. Das aber war in den Verträgen zwischen China und Grossbritannien so nicht vorgesehen. Gouverneur Patten wurde deshalb von der chinesischen Propaganda als „Hure des Orients“ wüst beschimpft.
Versprechen eingehalten
In der Tat, Demokratie stand nie zur Debatte. Vielmehr hatte der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping, genial wie er war, sich etwas anderes ausgedacht. „Ein Land, zwei Systeme“ nämlich. Nach der mit der damaligen britischen Premierministerin Margareth Thatcher ausgehandelten Vereinbarung durfte Hongkong nach dem 1. Juli 1997 für fünfzig Jahre sein wirtschaftliches, soziales und politisches System beibehalten. Das hiess also etwa: Weiterführung des Rechtstaates, der Rule of Law. Dazu gehören auch Presse- und Versammlungsfreiheit, Religionsfreiheit, Menschenrechte.
Jetzt, fünfzehn Jahre nach der „Rückkehr zum Mutterland“, sind mit verschwindend kleinen Ausnahmen all diese Versprechen eingehalten worden. Hongkong hatte nach 1997 wegen der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise krisenhafte Zeiten durchzustehen. Mit Hilfe nicht zuletzt des „Mutterlandes“ bewältigten die kreativen und innovativen Hongkonger diese Schwierigkeiten. Heute ist Hongkong mit New York und London das weltweit bedeutendste Finanz- und Dienstleistungszentrum. Peking andrerseits war stets darauf bedacht, Hongkongs „Ein Land, Zwei Systeme“ als Modell für die „abtrünnige Provinz Taiwan“ zu propagieren.
Freie Medien in Hongkong
Peking ist nur für den grösseren Zusammenhang zuständig. Für Aussen- oder Verteidigungspolitik etwa, für die Validierung der Gesetze und für die Absegnung der bislang nach einem Ständesystem gewählten Regierung der Sonderverwaltungs-Zone Hongkong. Der Rechtsstaat wurde nicht angekratzt, ebenso wenig die Versammlungsfreiheit. Über Hunderttausend Hongkonger demonstrieren jedes Jahr anfangs Juni zum Beispiel gegen die gewaltsame Unterdrückung des Studentenprotestes 1989 auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen. Die Medien sind heute so frei wie damals unter britischer Kolonialherrschaft.
Staats- und Parteicher Hu Jintao würdigte denn bei seiner Ankunft in Hongkong in einer kurzen Rede das in den letzten fünfzehn Jahren Erreichte: „Seit der Wiedervereinigung sind bemerkenswerte Fortschritte erzielt worden. Das Modell ‚Ein Land, Zwei Systeme’ hat sich bewährt“.
Für einmal ist das nicht Propaganda, sondern Wirklichkeit. Allerdings: die meisten Einwohner Hongkongs sagen auf Kantonesisch und zunehmend auch in der Standardsprache Mandarin noch immer, sie reisten nach „China“ und nicht, wie eigentlich politisch korrekt, „aufs Festland“.