Die indisch-chinesische Grenze in der nordwestlichen Himalaya-Region ist seit nun vier Monaten Schauplatz von militärischen Nadelstichen. Das für Zwischenfälle vorgesehene Protokoll, namentlich Treffen der Sektor-Kommandanten, hat sich als nutzlos erwiesen. Die Wiederherstellung des Status quo ante wurde zwar nebulös vereinbart, aber nicht ausgeführt. Stattdessen ist der Konflikt in den letzten Tagen eskaliert.
3488 Kilometer lange Grenze
Der wichtigste Grund für die explosive Lage ist die Tatsache, dass die beiden Länder in den letzten achtzig Jahren nicht fähig – oder willens – waren, ihre 3488 Kilometer lange direkte Nachbarschaft in eine völkerrechtlich verbindliche Grenze zu verwandeln. Es ist immer noch eine „Line of Control“. Sie wird nur durch physische Präsenz von Patrouillen und Bunkern gestützt. Keines der beiden Länder hat seine eigenen territorialen Ansprüche je kartografisch oder deskriptiv festgelegt.
Die Länge des hochgebirgigen Grenzverlaufs, die dünne Besiedlung sowie die extremen Klimaverhältnisse schliessen eine permanente und flächendeckende physische Präsenz aus. Dies hat dazu geführt, dass die eine „Line of Control“ manchmal zu zwei „Lines of Actual Control“ führen, die sich überkreuzen.
Patrouillen beider Länder befinden sich daher oft auf Sichtdistanz. Sie schwenken Banner und Spruchbänder, schreien sich an und geraten sich manchmal in die Haare. Das Abkommen von 1993 über „Peace and Tranquillity“ verbietet zwar den Gebrauch von Schusswaffen, doch führt dies dann zu Handgemengen, die – wie am vergangenen 15. Juni – zum Tod von Soldaten führen können.
Gebrochenes Tabu
Nun scheint auch das vereinbarte Tabu von Schusswechseln gebrochen worden zu sein. Am Dienstag beschwerten sich beide Seiten, dass der Gegner Gewehrschüsse in die Luft abgegeben habe. Drei Tage zuvor war zudem ein Soldat einer indisch-tibetischen Sondereinheit durch eine Mine getötet worden. Es war das erste Mal seit 1962, dass im westlichen Ladakh-Sektor wieder Schüsse fielen, und das erste Mal seit 1975, dass ein Soldat durch einen Explosivkörper zu Tode kam.
Das wahrscheinlichste Grundmuster des militärischen Katz-und-Maus-Spiels ist das folgende: Chinesische Einheiten beschränken sich nicht auf Patrouillengänge, sie erstellen auch Beobachtungsposten und Geschütznester. Indische Patrouillen versuchen, diese zu beseitigen. Dies führt zu Handgreiflichkeiten.
Die Schlichtungsinstanz zwischen den beiden Sektor-Kommandanten beschliesst die Wiederherstellung des früheren Zustands. Der Rückzug der chinesischen Einheiten ist allerdings nur ein partieller und wird begleitet von neuen Übergriffen an anderen Stellen der Line of Control, namentlich am Nordufer des Pangong-Sees, aber auch an einem halben Dutzend weiterer Brennpunkte.
Militärische Massierung auf beiden Seiten
Die Plausibilität einer chinesischen Offensive fusst auf der Evidenz einer Massierung militärischer Verbände hinter der Kampflinie. Amerikanische Drohnen-Aufnahmen zeigen, dass China in den Monaten vor dem Ausbruch der Feindseligkeiten schwere Waffen und mehrere zehntausend Truppen nahe der umstrittenen Grenzzone nördlich der indischen Ladakh-Region in Stellung gebracht hat.
Die indische Armee liess sich offenbar davon überraschen, wie bereits in einem ähnlichen Stand-off im Jahr 2017 in Doklam, einem Tal in der Grenzregion zwischen Indien, China und Bhutan. Sie war daher in den ersten beiden Monaten nicht imstande, eine weitere Landnahme durch eigene Vorbeugemassnahmen zu verhindern.
Nun hat sich dies allerdings geändert. Mit einer Luftbrücke von Transport-Helikoptern hat Indien ebenfalls schwere Waffen an die Line of Control verschoben und seine Mannschaftsbestände aufgestockt. Und statt der chinesischen Taktik – „zwei Schritte vorwärts, einer zurück“ – tatenlos zuzusehen, hat sie begonnen, drohenden Besetzungsaktionen mit eigenen Terrainbesetzungen zuvorzukommen.
Indiens Optionen
Inzwischen hat China im westlichen Sektor laut Schätzungen der Tageszeitung „The Hindu“ rund 900 km². Territorium besetzt oder zumindest als „eigenes“ markiert, das von beiden Seiten beansprucht wird und auf Indiens Seite der Line of Control liegt. Diese Zahl wird von indischer Seite offiziell nicht kommentiert.
Das Schweigen sowie die generelle Zurückhaltung in den meisten Stellungnahmen von Regierungssprechern lassen vermuten, dass sich die Regierung von Narendra Modi nicht in eine Zwangslage manövrieren lassen will, in der die öffentliche Meinung sie zu einer militärischen Eskalation zwingt.
Sie kann aber nicht vermeiden, dass ihre eigene nationalistische Rhetorik dazu führen würde, dass weitere Geländegewinne Chinas den Eskalationsdruck erhöht. Sie versucht daher, mit erhöhtem diplomatischen Druck ein Ventil zu schaffen, und zwar bi- und multilateral.
Die bilateralen Optionen sind allerdings schwach, da Indien in der wichtigsten Beziehung – dem Handel – stärker von China abhängig ist als umgekehrt. Deshalb sieht sich Delhi nach multilateralen Optionen um. Zu ihnen gehört seine Mitgliedschaft in der Quad. Es ist, wie das Kürzel suggeriert, ein Zusammenschluss von vier Nationen. Neben Indien gehören die USA, Japan und Australien dazu.
Trotz der militärischen Übermacht Chinas kann Indien auch auf eine kampferprobte Armee zählen, die auf Kriegsschauplätzen von 4000 Metern über weit mehr Erfahrung (und Zähigkeit) verfügen als die Volksbefreiungsarmee PLA, der diese Faktoren fast vollständig abgehen. Dass sie sich überrumpeln liess, weist eher auf eine fehlerhafte Einschätzung des Gegners hin als eine militärische Unterlegenheit.
Pekings Kalkül
Die chinesische Führung weiss dies, und sie versuchte, mit einem plötzlichen Vorstoss ein Fait accompli zu schaffen. Es fragt sich aber, ob sie für ein paar Geländegewinne in einer abgelegenen und strategisch wenig wichtigen Gebirgsregion einen militärischen Flächenbrand riskieren will. Im Gegensatz zur Konfrontation in Doklam vor drei Jahren, die mit einer riesigen Propagandaschlacht in den chinesischen Medien orchestriert wurde, hält sich die Medienbegleitung in China diesmal (mit Ausnahme der englischsprachigen „Global Times“) stark zurück.
Beijing wird sich auch zweimal überlegen, seine diplomatisch-strategischen Assets in der südasiatischen Region – allen voran Pakistan – in Stellung gegen Indien zu bringen. Ein Zwei-Fronten-Krieg würde Indien tatsächlich bis aufs Äusserste herausfordern. Xi Jinping würde aber damit die alleinige Kontrolle über seine Operationen – militärisch wie politisch – aus der Hand geben.
Dies gilt gerade für den Allianzpartner Pakistan, dessen langjährige Feindschaft mit Indien rasch eine Eigendynamik entwickeln könnte. China würde auch eine diplomatische Rückenstärkung Indiens durch die internationale Gemeinschaft provozieren. Sie könnte seinen wirtschaftlichen Interessen, etwa den riesigen Investitionen im Rahmen der Belt-and-Road-Initiative, schweren Schaden zufügen.
Treffen in Moskau
Diese internationale Dimension sowie das militärische Patt könnten bedeuten, dass die beiden grössten Länder der Welt den schwelenden Konflikt nicht zu einem offenen Krieg eskalieren lassen. Hinweise darauf kamen in den letzten Tagen aus Moskau. Vor einer Woche trafen sich dort die beiden Verteidigungsminister am Rand einer Vorbereitungssitzung für das im November stattfindende Gipfeltreffen der Shanghai Cooperation Organisation.
Trotz einer mehrstündigen Sitzung konnten und wollten sie von ihren verhärteten Positionen nicht abrücken. Dies scheint nun aber den beiden Aussenministern gelungen zu sein, die sich am Donnerstag ebenfalls in Moskau trafen. Sie beschworen das gemeinsame Interesse an einer friedlichen Lösung und einigten sich auf einen Fünf-Punkte-Plan, um diese zu erreichen.
Der Mechanismus dafür wurde allerdings weiterhin den militärischen Kommandanten vor Ort zugewiesen. Diese hatten in der Vergangenheit öfter die hautnahen Friktionen im Terrain zum Gegenstand und endeten in verbalen Kanonaden. Eine der glühenden Kartoffeln war der militärische Einsatz einer Special Frontier Force auf indischer Seite.
Indiens Special Frontier Force
Die SFF ist eine Formation, die vornehmlich aus Exiltibetern aus der Region Kham gebildet wurde, die sich dem Dalai Lama (ebenfalls einem Khampa) als ihrem geistigen und weltlichen Führer verpflichtet fühlen. Für sie ist allein schon die chinesische Präsenz in Tibet ein Affront.
Es handelt sich daher um besonders motivierte und mit dem Gelände bestens vertraute Kämpfer. Der Soldat, der am letzten Samstag durch eine Mine getötet wurde, hiess Nyima Tenzin. Er gehörte der SFF-Einheit an, die mit der Besetzung eines Hügels am Pangong-See einem chinesischen Handstreich zuvorgekommen war.