Der Neue schreibt aufdringliche Briefe, spricht von „der gewaltigen Leidenschaft der Liebe“ und stellt ihr nach. Doch ihre Eltern verachten den nachlässig gekleideten jungen Mann, der beim Essen schmatzt.
Nach langem Zögern gibt die dreissigjährige Frau nach. 46 Jahre wird sie mit dem aufbrausenden Mann verheiratet sein. Ein Leben mit Heinrich Pestalozzi – kein Schleck.
Anna Schulthess stammt aus einer gutbürgerlichen, gestrengen Zürcher Familie, die die Feinbäckerei Schulthess im Niederdorf betreibt. Sie hat fünf Brüder und steht seit dem 15. Lebensjahr täglich im Laden.
Kampf gegen Luxus und bürgerliche Sattheit
Die Sitten in der Zwingli-Stadt sind streng. Die Stadt zählt zu jener Zeit 10‘000 Einwohner. Die Sittenwächter sorgen für Ruhe und Ordnung. Theateraufführungen in der Stadt sind unsittlich und verboten. Während des Gottesdienstes müssen die Schenkhäuser schliessen. Lärm auf der Strasse ist nicht erlaubt. Bücher, Zeitungen und Flugblätter werden zensuriert. Von 1701 bis 1798 werden 55 Frauen und 94 Männer zum Tode verurteilt.
Bevor Pestalozzi zu seiner Sturm und Drang-Offensive ansetzt, ist Anna mit einem jungen Mann verlobt, den sie "Menalk" nennt. Er, ein Theologe und Erzieher, ist eine charismatische Figur. Menalk, der eigentlich Hans Kaspar Bluntschli heisst, ist intelligent, gebildet und feinfühlig. Er gehört einer Zürcher Jugendbewegung an, die gegen Luxus und bürgerliche Sattheit kämpft. Das grosse Vorbild ist Jean-Jacques Rousseau. Anna nimmt aktiv an den Diskussionen dieser patriotischen Bewegung teil. So bekommt sie Zugang zu einer Bildung, die ihr als Frau verwehrt war.
„Eindringling, was willst du hier“
Doch Menalk lebt nicht lange. Er leidet an einer schweren Lungenkrankheit und stirbt mit 24 Jahren. Anna besucht das Sterbezimmer. „Weshalb hast Du mich nicht mitgenommen?“, sagt sie und berührt seine bleichen Hände.
Sie betet und kehrt dann in ihr Schlafzimmer zurück. Dort findet sie einen ungestümen, fordernden Liebesbrief. Anna erschrickt und ist verletzt. „Eindringling, was willst du hier? Schliess schnell deinen Mund und schweig.“
Doch der aufgebrachte junge Mann schreibt weiter und klagt sein Liebesleid. Anna wehrt ihn ab. „Versteht der junge Mann denn nichts?“ fragt Dagmar Schifferli, die Biografin. Ihr Buch „Anna Pestalozzi-Schulthess – Ihr Leben mit Heinrich Pestalozzi“ war 1996 im Pendo-Verlag erschienen. Jetzt legt der Römerhof Verlag eine Neuauflage vor.
Hochfliegende Pläne
Anna ist acht Jahre älter als Pestalozzi. Eigentlich würde sie ihm gerne bei der Suche einer Frau helfen. Sie wehrt seine Liebesschwüre ab. Ihre Eltern sträuben sich gegen den stürmischen Liebhaber. Pestalozzi hat einen schlechten Ruf. Annas Vater will sie mit einem Seidenfabrikanten in Lyon verheiraten.
Und Pestalozzi will Bauer werden. Zwar versteht er nichts von Landwirtschaft, doch er hat hochfliegende Pläne. Er will von der Stadt aufs Land ziehen, so wie es Rousseau tat.
Anna schüttelt nur den Kopf. Doch sie beginnt Zuneigung zu empfinden. Er hat zwar Fehler, aber er legt sie offen. „Seine liebevollen Umarmungen, seine einnehmenden Worte, mein Gott, ich liebe ihn.“
„Aus dem Haus geworfen“
Sie setzt sich über den Widerstand ihrer Eltern hinweg. Im bernischen Kirchberg will sich Pestalozzi anderthalb Jahre zum Landwirt ausbilden lassen. Doch schon nach einem Jahr bricht er die Ausbildung ab und will sich selbständig machen. „Meine Eltern würden mich nie mit einem solchen Hitzkopf, wie du einer bist, ziehen lassen“ sagt Anna. Vater und Mutter, nachdem sie einige Briefe gefunden hatten, beschimpfen ihre einzige Tochter. Sie verbieten ihr jeden Kontakt mit Pestalozzi. Als er ihren Eltern seine Pläne vorstellen will, jagen sie ihn aus dem Haus.
Doch die Tochter kämpft jetzt für ihn - und gegen ihre Eltern. Pestalozzi kauft Land im Birrfeld. Am 30. September findet die Hochzeit statt. Annas Eltern bleiben der Feier fern. Später beginnen sie sich mit dem jungen Paar zu arrangieren.
„Wir sind am Ende“
Jetzt ziehen Anna und Heinrich in ihr Heim in Mülligen. Doch das Unternehmen läuft schlecht. Pestalozzi ist ein miserabler Organisator – zudem fehlen ihm die Fähigkeiten zum Landwirt. Die Bank zieht sich zurück. „Anna, wir sind am Ende. Wenn jetzt kein Wunder geschieht, sind wir völlig ruiniert“, sagt Heinrich. Das Geld, das sie inzwischen von ihren Eltern bekommen hat, hat er verbraucht.
Im August bekommt Anna einen Sohn. Sie nennen ihn Jacqui – nach Jean-Jacques Rousseau. Nicht nur für Menalk, auch für Pestalozzi war und ist Rousseau glühendes Vorbild. Die Erziehungsmethoden Pestalozzis nicht nur edel. Jacqui muss im Winter barfuss gehen, um sich abzuhärten. Ab und zu wird er eingesperrt. Selbst ein Angestellter entrüstet sich über die Härte des Vaters.
Musteranstalt für Arme
Ein neuer Plan. Jetzt will Pestalozzi auf dem „Neuhof“ bei Birr verwahrloste Kinder aufnehmen. Er will sie zu guten Spinnern und Webern machen und sie lesen und schreiben lernen. Schnell füllt sich das Haus mit armen Kindern, die hier warme Mahlzeiten kriegen. Pestalozzi schwebt eine Musteranstalt für die Armenerziehung vor.
Anna verzweifelt. Sie führt die Buchhaltung. Sie sieht, dass erneut der Ruin droht. Sie wird krank, ihr ganzes Vermögen ist hin. Doch sie steht zu ihrem Mann. Die Armenerziehung ist gescheitert.
Wieder zeigt sich: Er ist ein Chaot
Jetzt ein Lichtblick: Er beginnt zu schreiben, um Geld zu verdienen. Sein Dorfroman „Lienhard und Getrud“ bringt ihm den literarischen Durchbruch. Als Anna erfährt, dass der Roman auch auf Französisch übersetzt wird, fällt eine Last von ihr. „Komm, lass uns darauf anstossen“, sagt sie, „wir haben noch einen Döttinger vorrätig“.
Pestalozzi ist jetzt ein berühmter Mann. Anna ist es gewesen, die sein Manuskript abgeschrieben und lesbar gemacht hat. Viel Geld bringt das Berühmtsein nicht.
Wieder gescheitert
Wieder ein neuer Plan. Pestalozzi will in Stans ein Waisenhaus einrichten. Zum ersten Mal wird er von einer offiziellen Behörde mit einem pädagogischen Auftrag betraut. Doch wieder zeigt sich: er ist ein Chaot. Bald schon herrscht Unordnung, seine verlotterte Kleidung und sein ungepflegtes Äusseres ecken an. Nach fünf Monaten ist der Traum vorbei. Das Waisenhaus wird geschlossen.
1801 ein Schicksalsschlag. Sohn Jacqui, der immer schwächer wurde, stirbt mit 31 Jahren. Doch dann beginnt für Pestalozzi eine Erfolgsphase – eine kurze. Im Schloss Burgdorf richtet er eine Schule ein, die sich rasch einen guten Ruf erwirbt. Der Ruhm des Instituts dringt bis ins Ausland. Von weit her kommen Erzieher, um die Unterrichtsmethoden Pestalozzis zu studieren. Doch die Schule muss schliessen. Ein wohlhabender Patrizier will das Schloss – und bekommt es. Wieder ist ein Projekt Pestalozzis gescheitert.
„Untauglich und unzuverlässig“
Mit seinen hundert Schülern zieht er ins Schloss bei Buchsee. Doch dort bleibt er nicht lange. Jetzt bietet ihm die Stadt Yverdon am Neuenburgersee ein Schloss für eine Schule an.
Zunächst hat er Erfolg. 1810 zählt man 150 Zöglinge aus ganz Europa. Doch bald schon fehlt dem Institut eine klare Leitung. Dagmar Schifferli zitiert die Pädagogin Rosette Kasthofer: „Ich halte Pestalozzi als einen, der für den praktischen Teil des Lebens untauglichsten und unzuverlässigsten Menschen, den die Erde trägt. Doch sein inneres Wesen enthält Töne, welche die ganze Menschheit durchtönen und die durch die Ewigkeit der Zeiten nachhalten werden“.
Anna ist inzwischen 76 Jahre alt. Dem Institut wird eine Reorganisation aufgezwungen. Sie beginnt Früchte zu tragen. Im Frühjahr 1815 kehrt Anna von einem Aufenthalt in Zürich nach Yverdon zurück. Im Lehnstuhl empfängt sie Besucher aus aller Welt.
Am 7. Dezember geht sie „froh und heiter“ zu Bett. Um Mitternacht überfällt sie ein Fieber. Ein Arzt findet ihren Zustand besorgniserregend. Pestalozzi, der in Lausanne weilt, kehrt schnell zurück. Am 11. Dezember 1815 stirbt sie im Alter von 77 Jahren. Sie ist im städtischen Friedhof von Yverdon begraben.
Es könnte so gewesen sein
Dagmar Schifferlis Buch ist keine eigentliche Biografie. Vieles ist Fiktion. Aufgrund vieler Fakten und Recherchen hat sie einen Roman geschrieben. Das Problem ist, dass man nicht immer weiss, was Fakt und was Roman ist. Vieles, was sie schreibt, könnte so gewesen sein. Es war aber vielleicht nicht so. Vieles hat sie sich einfach vorgestellt. Zum Beispiel, wenn sie schreibt: „Schluchzende Laute brodelten in ihrem Körper, aufwallende Laute, von zugeschnürter Kehle schmerzlich zurückgedrängt.“ Pathos sei gegrüsst.
Es gibt Leute, die mögen solch ausgeschmückte Lebensbeschreibungen. Andere mögen sie weniger. Am Schluss des Buches hätte man angeben sollen, auf welche Dokumente sie sich beruft. Ein Literaturverzeichnis mit den benutzten Quellen gibt es nicht.
Beklemmend
Die Autorin will die Leser bei der Hand nehmen und sie durch das Leben von Anna und Heinrich führen. Diese Form, dem Publikum zu zeigen, wo und wie sie recherchiert hat. Da heisst es: „Um Genaueres zu erfahren, finde ich in Jahrbüchern aufschlussreiche hinweise.“ Oder: „Ich finde dort die Niederschrift…“. Oder: „ Ich blättere weiter und finde Details“. Oder: „Ungewöhnlich ist schon, stelle ich fest, wie viele Jahre“ die beiden getrennt und doch zusammen sind. Oder: „Darf ich es wagen, zu sagen, dass auch dieses Unternehmen bald am Ende war.“ All das klingt aufgesetzt. Wieso sagt sie nicht: „Auch dieses Unternehmen war bald am Ende“? Natürlich ist jede Biografie eine persönliche Auslegung, aber diese Ich-Form wirkt auf die Dauer beklemmend.
Trotzdem: Die Biografie, die weder eine wirkliche Biografie noch ein Roman ist, offeriert zahlreiche spannende Details. Wer mit den Pestalozzis nicht ganz so vertraut ist, erhält hier eine leicht lesbare Zusammenfassung ihres Lebens. Gut gelungen ist auch die historische Einbettung.
Cherchez la femme
Über weite Strecken könnte man das Buch als Demontage Pestalozzis auffassen. Er, der Utopist und immer wieder Gescheiterte. Pädagoge ist er eigentlich wider Willen geworden. Wenn er als Bauer Erfolg gehabt hätte, wären heute nicht Plätze und Strassen nach ihm benannt. (Pestalozzis pädagogische Arbeit zu würdigen, war nicht Ziel und Aufgabe des Buches.) Ohne seine Frau, die ihm in allen Krisen zur Seite stand und ein vielversprechendes begütertes Leben für ihn opferte, wäre er wohl nicht weit gekommen. Cherchez la femme.
Anna Pestalozzi wird uns als starke Frau geschildert, die es rund 20 Jahre vor der Französischen Revolution wagt, gegen ihre Eltern aufzubegehren und bürgerliche Konventionen über den Haufen zu werfen. Ein Leben lang hat sie für ihren Mann und seine Utopien gelitten, durchgehalten – und in seinem Schatten gestanden.
Eine wissenschaftliche Biografie will das Buch nicht sein. Neues entdeckt hier die Pestalozzi-Forschung wahrscheinlich nicht. Das war auch nicht das Ziel der Autorin.
Dagmar Schifferli: Anna Pestalozzi-Schulhess - Ihr Leben mit Heinrich Pestalozzi, Römerhof Verlag, Zürich, Herbst 2013, ISBN 978-3-905894-23-3