An gutem Willen mangelt es nicht. An Geld eigentlich auch nicht. Fast zehn Milliarden Dollar hat allein die internationale Gemeinschaft den Haitianern versprochen, um ihnen nach der Erdbebenkatastrophe vom 12. Januar 2010, bei der schätzungsweise 250 000 Menschen starben, einen "Neubeginn" zu ermöglichen - territorial, sozial, wirtschaftlich und institutionell.
Es fehlt nicht an Geld, aber an effizienter Koordination
Zwei Milliarden waren für das erste Jahr vorgesehen, von dieser Summe ist allerdings fast ein Drittel bisher nicht in der Karibikrepublik angekommen. Auch von den Spenden, die Hilfswerke sammelten, ist ein Grossteil noch nicht ausgegeben. Dies sei bewusst geschehen, betonen Sprecher von Nichtregierungsorganisationen. "Es geht nicht nur darum, das Geld auszugeben", rechtfertigte sich Sabine Wilke von Care in einem ARD-Interview. "Sondern wir müssen das Geld richtig ausgeben, und das sind Planungen, die einfach ihre Zeit brauchen."
Ein längerfristiger Plan für Haiti fehlt nach wie vor, eine koordinierte Hilfe ebenfalls. Deshalb bleibt vieles Stückwerk, ist die akute Not weiterhin gross, die Lage unzähliger Haitianer immer noch dramatisch. Mittlerweile sind mehr als 600 internationale Hilfsorganisationen registriert, doch weniger als zwei Dutzend arbeiten mit den Regierungsbehörden zusammen. Immer wieder entscheiden Helfer auch über die Köpfe der direkt Betroffenen hinweg, obwohl es sich gezeigt hat, dass es dort am ehesten vorwärts geht, wo die Menschen sich selber organisieren und in die Projekte integriert werden.
Eine spanische NGO etwa hat ein ganzes Dorf aus Holz gebaut, ohne die künftigen Bewohner zu fragen, ob sie tatsächlich dort untergebracht werden wollen. Die Gemeindebehörden wehrten sich gegen das Projekt, und die Wahrscheinlichkeit, dass die Häuser jemals bewohnt sein werden, ist klein.
Zu allem Elend auch noch Cholera
In den vergangenen zwölf Monaten floss das Geld vor allem in die Nothilfe. In den Obdachlosencamps von Port-au-Prince ist heute die Versorgung verhältnismässig gut. Es wurden Plastiktoiletten eingerichtet und Wassertanks aufgebaut, es gibt zu essen, Schulen und Ärzte. Jetzt, versichern Hilfswerksprecher, werde man sich Schritt für Schritt an den Wiederaufbau machen. Doch zunächst müssen die Trümmer beseitigt werden. Und das dürfte in Port-au-Prince, wo 60 Prozent der Gebäude zerstört sind, mindestens ein Jahrzehnt dauern, wenn die Arbeiten im bisherigen schleppenden Tempo weitergeführt werden.
Wann endlich alle der 1,3 Millionen Obdachlosen wieder ein richtiges Zuhause haben werden, wagt niemand vorauszusagen. Dies umso weniger, als zunächst einmal die teilweise völlig undurchsichtigen oder nicht mehr nachweisbaren Besitzverhältnisse geklärt werden müssen.
Als ob die Situation nicht ohnehin schon schlimm genug wäre: Mitte Oktober brach auch noch eine Cholera-Epidemie aus. Bisher sind 160 000 Menschen erkrankt, Ende Jahr registrierten die Gesundheitsbehörden 3500 Tote, die tatsächlich Opferzahl dürfte wesentlich höher sein. Der Anteil der Infizierten steigt kontinuierlich an, Ärzte vor Ort sprechen von katastrophalen Zuständen und fordern zusätzliche Mittel zur Behandlung der Patienten und zielstrebige Massnahmen gegen eine weitere Ausbreitung der Epidemie.
Naturkatastrophen und Machtexzesse
Der Wiederaufbau kommt in Haiti auch darum langsamer voran als in anderen Katastrophengebieten, weil der Staat praktisch inexistent ist. Die staatlichen Institutionen funktionieren nicht oder bestenfalls mangelhaft - und das nicht erst seit dem Erdbeben. Das seit gut zwei Jahrhunderten unabhängige Land erlitt nicht bloss immer wieder verheerende Naturkatastrophen. Die Geschichte des ehemaligen Sklavenvolkes ist auch geprägt von Ausbeutung, internen Konflikten, Machtexzessen seiner Herrscher, überbordender Korruption und Interventionen von aussen.
In mehr oder weniger regelmässigen Abständen kamen fremde Truppen in den westlichen Teil Hispaniolas. Dabei war ihr hehres Ziel, die Demokratie wiederherzustellen, gepaart mit dem Hauptanliegen der US-Amerikaner, den Strom von haitianischen Bootsflüchtlingen zu unterbinden. Die ausländischen Soldaten konnten zwar blutige Unruhen stoppen, aber weder die demokratische noch die wirtschaftliche Entwicklung des Landes fördern: Haiti ist chronisch instabil.
Und bitterarm. Schätzungsweise 80 Prozent der zehn Millionen Haitianer sind arbeitslos, jeder zweite ist Analphabet. Viele Familien überleben nur dank der Geldüberweisungen von Angehörigen, die sich im Ausland eine neue Existenz aufgebaut haben - und dank internationaler Hilfsprogramme. Machthungrige Politiker versprachen dem Volk immer wieder, soziale Reformen in die Wege zu leiten, für eine gerechtere Einkommensverteilung zu sorgen und das Land damit weniger abhängig vom Ausland zu machen. Wort gehalten hat keiner: Einmal im Amt, war jeder nur noch bestrebt, den Wohlstand des eigenen Clans zu mehren.
Es ist bezeichnend, dass auch die jüngste Präsidentschaftswahl im Dezember von massiven Korruptionsvorwürfen und Spannungen überschattet war. Und nicht einmal die grössten Optimisten glauben, dass die in diesem Monat vorgesehene Stichwahl dem ärmsten Staat der westlichen Hemisphäre endlich politische Stabilität bescheren wird.
Am Tropf ausländischer Hilfe
Haiti hat sich wie kaum ein anderes Land daran gewöhnt, Unterstützung von aussen zu beanspruchen und dabei in Kauf genommen, dass viele Projekte kurzfristig angelegt waren und nur punktuelle Verbesserungen brachten. Die kleine Karibikrepublik benötigt jedoch mehr denn je eine dauerhafte entwicklungsorientierte Zusammenarbeit, die sie dazu befähigt, solide demokratische, soziale und wirtschaftliche Strukturen aufzubauen. Nur so wird sie in die Lage kommen, Eigeninitiative zu entwickeln. Und auch Selbstverantwortung zu übernehmen.