Salzburg im Sommer: Das sind unzählige Touristen in der Getreidegasse, das sind müde Fiaker in der Mittagshitze und das sind die Festspiele, die seit 104 Jahren zusätzlich Künstler, Musiker, Sänger und eine Vielzahl von Zuschauern nach Salzburg locken. Also viel Betrieb in Mozarts Geburtsstadt.
Langsam, aber sicher gehen nun zumindest die Salzburger Festspiele des Jahrgangs 2024 in die Endrunde: sechs Wochen Oper, Konzert, Schauspiel, Lesung, und auch ganz viel Schaulaufen für die Promis.
Und auch wenn man vor ein paar Monaten nach Bekanntgabe des Programmes noch ein bisschen skeptisch denken mochte, naja … mal sehen … So wurde man dann doch eines Besseren belehrt, dank Werken, die weniger bekannt oder ganz neu sind, die aber Publikum und Kritik schliesslich umso mehr überwältigten. Auf der anderen Seite sind da allerdings auch Aufführungen in allerbester Besetzung, Stücke, die als Publikumsrenner gelten – und sich als absoluter Flop erweisen. Für Überraschung ist jedenfalls gesorgt.
Musikalisch spannender Auftakt
Überraschend war sicher schon einmal die Programm-Auswahl mit viel Russischem. Ganz gegen den Trend und gegen den Zeitgeist. Zumal Intendant Markus Hinterhäuser auch an Teodor Currentzis festgehalten hat, dem «bad boy» der Klassik – so die NZZ. Currentzis, griechisch-russischer Doppelbürger, der grosse Aufsteiger der letzten Jahre, der geniale Dirigent, der mit einem Siegeszug sondergleichen die Klassikwelt auch in Westeuropa aufgemischt hat, aber zum Krieg in der Ukraine bis jetzt geschwiegen hat. Das hat ihn etliche Engagements gekostet. Dort, wo er auftritt, wird er allerdings bejubelt. So auch in Salzburg.
Gleich zu Beginn, am ersten Tag der Festspiele, hat Currentzis Johann Sebastian Bachs «Matthäuspassion» aufgeführt. Die Luzernerin Regula Mühlemann, die dort hätte mitwirken sollen, musste allerdings aus gesundheitlichen Gründen absagen. Das Konzert wurde zu einem ersten Höhepunkt der Festspiele, im Handumdrehen ausverkauft. Leise, klar, zurückgenommen und erschütternd sei es gewesen, schreibt die NZZ über diesen halbwegs russischen Auftakt der «Ouverture spirituelle». Die Einführung dieser ersten Woche mit teilweise geistlicher oder spiritueller Musik geht übrigens noch auf Alexander Pereira zurück, den schillernden Intendanten des Zürcher Opernhauses, der nach seinem Weggang von Zürich einige Jahre die Salzburger Festspiele leitete. Seither ist diese erste Woche ein musikalisch spannender Auftakt vor den grossen Produktionen in den Festspielhäusern geblieben.
Dostojewski als Oper
Dann die erste grosse Neuproduktion im Opernbereich: «Der Idiot», auf der riesigen Bühne der Felsenreitschule. Komponist ist Mieczyslaw Weinberg, der in Warschau geboren wurde, den seine musikalische Laufbahn aber nach Russland führte und dort in den Kreis von Dmitri Schostakowitsch und Sergei Prokofiev. Erst Mitte der 1980er-Jahre hat er seine siebte und letzte Oper geschaffen: «Der Idiot», nach dem Roman von Fjodor Dostojewski. Uraufgeführt wurde sie schliesslich im Jahre 2013. Im Mittelpunkt steht Fürst Myschkin, ein Epileptiker, der wegen seiner Krankheit in der St. Petersburger Gesellschaft als «Idiot» angesehen wird. Es geht um Intrige, Liebe und Mord.
Inszeniert wurde der «Idiot» vom polnischen Regisseur Krzysztof Warlikowski. Und in einer der Hauptrollen glänzt die litauische Sopranistin Aušrinė Stundytė, die am Opernhaus Zürich bereits als «Feuriger Engel» brilliert hat und in Salzburg als «Elektra» und als Judith in «Herzog Blaubarts Burg». Alles schwierige Rollen, die ihr aber offensichtlich liegen. Und die musikalische Leitung liegt ebenfalls in der Hand einer Frau: Mirga Gražinytė-Tyla dirigiert die Wiener Philharmoniker, und auch sie kommt aus Litauen, wie Aušrinė Stundytė.
Kennengelernt haben sich die beiden Frauen allerdings in der Schweiz.
«Wir sind uns vor rund zehn Jahren in Bern begegnet», erzählt Aušrinė Stundytė.
«Mirga war dort Erste Kapellmeisterin am Stadttheater. Wir haben damals einen wunderbaren Nachmittag miteinander verbracht und uns seither nie mehr gesehen. Es ist unsere erste Zusammenarbeit, und die ist wirklich sehr angenehm.»
Anders als mit männlichen Dirigenten?
«Ich würde sagen, Frauen als Dirigentinnen unterscheiden sich stärker von Männer-Dirigenten als Regisseurinnen von Regisseuren. Ein Dirigent ist in sich etwas sehr Männliches. Und Frauen machen es anders.»
Was machen sie anders?
«Frauen sind weniger dominant. Also kooperativer. Sie haben weniger diesen Macho-Durchsetzungs-Komplex.»
Aber braucht man denn vor einem Orchester nicht etwas Macho-Durchsetzungs-Vermögen?
«Ja, ich sage ja auch nicht, dass das unbedingt schlecht ist. Aber es geht auch anders. Generell finde ich, dass bei Dirigentinnen die Balance besser ist, die Orchester nehmen sich mehr zurück. Ich sage nicht, dass Männern das nicht auch gelingt. Aber nicht allen … Für Sänger ist diese Balance total von Vorteil.»
Und was ist für sie das Spezielle an dieser Rolle, an diesem Stück?
«Ich finde, diese Oper ist eine der wenigen, wo auch der Text besonders tiefgründig ist, auch schwer und so bedeutungsvoll. Man kann wahrscheinlich an einer Hand abzählen, bei wie vielen Opern das so ist. Der ‘Idiot’ ist eine davon. Für mich steht das auf einer Ebene wie ‘Elektra’. Es geht nicht einfach um eine Liebesgeschichte. Es geht um das, was in jedem Menschen am tiefsten liegt, es ist schwierig, das in Worte zu fassen. Ich verstehe das auf einer nicht-intellektuellen Ebene. Es ist ein Seelenschrei … eigentlich von jedem Menschen.»
Also wieder eine schwierige Person in einem schwierigen Stück. Sind sie Spezialistin für schwierige Personen?
Ausrine Stundyte lacht … «Ja, das kommt immer wieder auf mich zu. Es ist nicht meine Wahl, aber ich mache es gern.»
Und wie weit gehen sie innerlich mit, während der Vorstellung?
«Am besten so tief hinein wie möglich. Also gerade bei dieser Nastassia … da verstehe ich alles in ihr. Ich muss keine Fragen stellen, da steckt viel ‘Ich’ in ihr. Nicht in dem, was oberflächlich in ihrem Alltag passiert, sondern in ihr als Person. Ich kann total nachvollziehen, was sie tut.»
Wie schwierig ist es denn, solche Rollen zu lernen?
«Ich merke, dass man gerade bei moderner Musik für jeden Komponisten sein eigenes System erfinden muss, wie man es am besten lernt. Der eine muss ganz mathematisch erfasst werden, der andere ist mehr oder weniger organisch … so hat jeder seine schwierigen Ecken und Tücken. Mit Weinberg ist es eigentlich gefährlich .... (sie lacht), weil die Musik schön zu sein scheint, sozusagen ‘normal’, also harmonisch und organisch … da macht man immer wieder Fehler, weil es eben doch ein bisschen versetzt ist, fast organisch, aber nicht ganz. Es gibt so viele Emotionen, so viele Gedanken, die parallel laufen. Da passieren immer wieder kleine ‘Unfälle’; ich hoffe aber trotzdem, dass sie den Fluss nicht stören, wenn sie halt doch passieren …»
Passiert ist nichts, das den Fluss gestört hätte. Im Gegenteil.
«Der Idiot» ist eines der ganz grossen highlights der diesjährigen Salzburger Festspiele geworden. Mit unbekannter Musik, die sofort ins Ohr geht, mit faszinierenden Bildern auf der Bühne, mit einem grossartigen Gesangsensemble und mit den Wiener Philharmonikern unter der Führung von Mirga Gražinytė-Tyla. Nach über drei Stunden Jubel und tosender Applaus.
Nawalnys Briefe
Zu einem russischen Highlight ganz anderer Art ist die Lesung «Hallo, hier spricht Nawalny» im Landestheater geworden. Der russische Regimegegner Alexej Nawalny ist im Februar dieses Jahres in einem Straflager in Sibirien gestorben. Er war Russlands berühmtester politischer Gefangener. Seine «Briefe eines freien Menschen» aus dem Gefängnis und die Reden bei Gerichtsverhandlungen sind zu einem speziellen literarischen Genre von höchster Aktualität geworden. Nawalny analysiert seine Situation und die Lage in Russland in den Briefen an seine Frau Julia Nawalnaja. Es sind beklemmende Berichte, aber auch persönlich Berührendes und fast Anekdotisches steht in diesen Briefen, aus denen Michael Maertens und Katja Kolm gelesen haben. Das Publikum ist total berührt.
Neben der Matthäus-Passion zu Beginn der Festspiele leitet Teodor Currentzis auch Mozarts «Don Giovanni». Es ist keine Neu-Inszenierung, sondern eine leicht aufpolierte Wiederaufnahme aus dem letzten Sommer. Regie: Romeo Castellucci. Und eine überragende Nadezhda Pavlova als «Donna Anna». «Don Giovanni» total entstaubt, cool, abstrakt und sehr eigenwillig im Erscheinungsbild auf der Bühne. Das erste Lebewesen, das die Bühne betritt, ist eine schwarzweisse Ziege, die unbeirrt von links nach rechts läuft. Zwei weisse Pudel treten später auf und schliesslich auch noch eine Ratte. Das ist sicher nicht nach jedermanns Geschmack, aber am Schluss gibt es lang anhaltenden Applaus, vor allem für Currentzis und sein Orchester Utopia.
Und apropos «Jedermann» – darüber mehr das nächste Mal …