Narendra Modi war für manche Überraschung gut, als er vor elf Monaten Regierungschef wurde. Manche waren positiv, einige weniger. Die grösste war zweifellos das heftige Reisefieber, das bei ihm plötzlich ausbrach. Noch vor seiner Amtseinsetzung lud er bereits seine sechs Amtskollegen aus der SAARC-Region zur Vereidigung ein. Dann kam es Schlag auf Schlag: Acht Länderbesuche in den ersten sechs Monaten, Teilnahme an vier multilateralen Zusammenkünften. Er hatte zwei Gipfelgespräche mit Präsident Obama, traf Chinas Xi Jinping fünfmal, gleich oft wie den japanischen Premier Shinzo Abe. In Delhi empfing er Wladimir Putin, Australiens Tony Abbott, die Präsidenten von Vietnam, Singapur und Sri Lanka, neben jenen der USA und Chinas.
Gegenwärtig läuft seine elfte Auslandsreise: Drei Tage in Frankreich, drei in Deutschland und drei in Kanada. Kaum jemand weiss, dass die ‚offizielle’ Aussenministerin Sushma Swaraj heisst; Journalisten notieren maliziös, es komme nicht von ungefähr, dass Modi ausgerechnet seine innerparteiliche Rivalin zu dieser ‚Strafversetzung’ verknurrt hat; er gehe ja noch gnädig mit ihr um und überlasse ihr die Heimführung von Indern aus Jemen. Oppositionspolitiker witzeln, der Slogan der Hindu-Kampagne von Zwangskonversionen für Muslime und Christen – ‚Zurück nach Hause!’ – gelte auch für den Premierminister.
Sorgfältig überlegter Plan
Was steckt hinter dieser hektischen Besuchsdiplomatie? Will Modi seine relative Obskurität als langjähriger Chefminister eines Bundesstaats im Blitzgewitter der internationalen Schaubühne wettmachen? Spürt er den Drang, es seinen zahlreichen Gegnern im In- und Ausland heimzuzahlen, besonders jenen wie Washington und EU-Brüssel, die ihm nach den Pogromen in Gujerat jahrelang ein Visum verweigert hatten? Oder ist er einfach ein typischer Gujerate, in dessen Adern (wie er selber gestand) Geld zirkuliert, aber auch die Lust, dieses im Ausland zu verdienen?
Hier folgt die zweite – positive – Überraschung: Modis Reisen sind keineswegs Spritztouren, die er sich gönnt, wenn ihn die Mühsal eines schier unregierbaren Landes übermannt. Sie scheinen im Gegenteil einem sorgfältig überlegten Plan zu folgen. Dessen Ziel ist es, Indiens als ökonomische Grossmacht und politische Mittelmacht zu projizieren und daraus politisches Kapital zu schlagen.
Signale an Beijing
Die Ausführung dieser Strategie folgt Schritt auf Schritt. Zuoberst steht die Festigung der Beziehungen zu den beiden Supermächten USA und China, mit drei Gipfeltreffen, denen im Mai ein viertes – Modis Reise nach Beijing – folgen wird, an das sich ein Abstecher nach Seoul fügt. Als Zweites kommt die Vertiefung der nachbarschaftlichen Beziehungen im Regionalverband SAARC (plus Myanmar). Die dritte Priorität ist die ‚Look East’-Ausrichtung auf den pazifischen Raum. Sie ist wirtschaftlich begründet, enthält aber auch das politische Signal an Beijing, dass sich Delhi zur Achse Washington-Tokio-Seoul-Canberra zählt. Die persönliche Chemie zwischen Modi, Abe und Abbott – alle Drei verfügen über ein ähnliches autoritäres Naturell – stützt diese Beziehung ab.
Selbst Modis letzte Exkursion vor einem Monat lässt sich in eine wohlüberlegte Strategie einpassen. Der Besuch der Seychellen, von Mauritius und Sri Lanka – die Malediven wurden im letzten Augenblick ausgelassen – waren der erste Gegenzug Indiens im Poker, den China nun auch im westlichen Indischen Ozean zu spielen begonnen hat. Beijings Perlenkette-Strategie, mit seinen Stützpunkten in Form von Marine-Basen und massiver Wirtschaftshilfe, soll gekontert werden mit Delhis Projektion dieses Ozeans als Mare Nostrum Südasiens.
Ein Meister symbolischer Gesten
Die Rivalität mit China bedeutet nicht, dass Delhi nicht auch gegenüber der befreundeten westlichen Supermacht seine Autonomie signalisieren will. Dazu dient gerade der laufende Besuch in die Hauptstädte jener Mittelmächte, die gegenüber Washington ebenfalls eine Beziehung ‚distanzierter Intimität’ unterhalten. Kommt hinzu, dass Frankreich, Deutschland und Kanada weltwirtschaftliche Führungsmächte sind – französische Waffen- und Atomtechnologie, deutsche Industriegüter, kanadische Rohstoffe – die für Indien interessant sind (und umgekehrt).
Es war ein kluger Entscheid der deutschen Wirtschaftsdiplomaten, Modi als Hauptgast der Hannover-Messe einzuladen, die er am Sonntagabend mit Bundeskanzlerin Merkel eröffnete. Der Schachzug war ganz nach Modis Gusto, denn er ist ein Meister symbolischer Gesten und weiss sie politisch optimal umzumünzen. In Frankreich war es weniger der Besuch der Airbus-Zentrale in Toulouse als der Abstecher nach Neuve-Chapelle. Dort gedachte er auf dem Soldatenfriedhof der vielen tausend indischen Soldaten, die in den Schützengräben Nordfrankreichs im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Er war der erste Premierminister, der ihnen diese Ehre erwies, und er nutzte die Geste, um die Welt auf Indiens Beitrag zur internationalen Sicherheit hinzuweisen (und auf den für ihn selbstverständlichen Anspruch Delhis auf einen permanenten Sitz im UNO-Sicherheitsrat).
Messias des neuen Indiens
Wie überlegt die Reisediplomatie Narendra Modis ist, zeigt der massive Einsatz der indischen Diaspora. Es begann mit dem triumphalen Empfang Modis im New Yorker Madison Square Garden durch die Non-Resident Indians (NRI) im letzten September. Er zeigte ihm, wie wichtig sie für ihn sind, einmal als Finanz-Sponsoren der Regierungspartei BJP, noch mehr aber durch ihr wirtschaftliches und politisches Gewicht, das sie in den jeweiligen Gastländern ausüben. Sie machen inzwischen jeden Auslandsbesuch Modis – ob in Canberra oder Hanoi, in Rio oder London – zu einem Heimspiel.
Dass viele dieser NRIs inzwischen zu glühenden Jüngern der Hindutva-Ideologie geworden sind, erlaubt es ihm, sich als Messias des neuen Indiens in Szene zu setzen, wie er es zuhause im Wahlkampf getan hatte. Vielleicht ist es diese überbordende Begeisterung, die ihn dazu führt, Indien als das Gelobte Land der Freien und Friedliebenden auszumalen, das die Ideale eines Mahatma Gandhi oder eines Buddha vorlebt, sei es in der Ehrfurcht vor der Umwelt, der Achtung der Freiheitsrechte oder der Sorge um den Nächsten.
Kampagne gegen NGOs
Dass dabei Rhetorik und Realität immer mehr auseinanderdriften, scheint die Zuhörer nicht zu stören. Inzwischen sind es nicht mehr nur die religiösen Freiheitsrechte, die – wenn nicht von ihm, so doch von seinen Anhängern – beschränkt werden sollen. Während Narendra Modi lautstark Indiens Demokratie preist, hat seine Regierung zuhause eine Kampagne gegen NGOs vom Zaun gebrochen, die einer Verhöhnung demokratischer und zivilgesellschaftlicher Toleranz gleichkommt. Und während er von internationaler Solidarität in Sachen Umwelt spricht, werden im Land internationale NGOs wie Greenpeace oder Avaaz.org aufs Korn genommen, weil sie den Raubbau der Wälder kritisieren.
Was im demokratischen Ausland selbstverständlich ist – internationale Kampagnen gegen landesübergreifende Themen wie Atomkraft, Kohleabbau, GM-Lebensmittel – ist für Indiens Regierung ein Versuch fremder Mächte, das Land vom Fortschritt abzuhalten. Eine indische Greenpeace-Aktivistin wurde vom Verlassen des Landes abgehalten, weil sie vor einem britischen Unterhaus-Ausschuss gegen die Zerstörung von Schutzwäldern durch den anglo-indischen Mineralkonzern Vedanta aussagen wollte. Als das Oberste Gericht sie in Schutz nahm, rügte Premierminister Modi die Justiz, sich von ‚Fünfstern-Aktivisten’ beeindrucken zu lassen. In den letzten Tagen wurden alle Greenpeace-Bankkonten gesperrt, einschliesslich jener, die inländische Spenden verwalten. Modi hat von China gelernt: Ködere den Westen mit Aufträgen, dann verhält er sich still.