Natürlich steht nirgends geschrieben, man dürfe Prosaarbeiten nicht für die Bühne bearbeiten. Das ist durchaus legitim und wurde auch schon oft erfolgreich gemacht. Doch wenn man es wagt, dann sollte einem auch etwas dazu einfallen. Dann sollte die Bühnenfassung mehr sein als bloβe Illustration der Romanvorlage.
Barbara Freys Adaptation von Kafkas „Prozess“, mit der die neue Saison auf der Pfauenbühne eröffnet wurde, ist es leider nicht. Stimmig ist zwar die Bühne (Bettina Meyer): ein nackter, kühl ausgeleuchteter Raum, Arbeitstische im Vordergrund und hinten eine graugrüne Wand, die aus einer Art von Schlieβfächern besteht und jenes undurchschaubare System symbolisiert, das Josef K. alsbald vernichten wird. Handlung und Figuren jedoch bleiben blass.
Markus Scheumann vermag seinem Josef K. nur wenig Kontur zu geben. Schlüsselsätze aus dem Roman müssen auf die Wand projiziert werden, um die Handlung voranzubringen. Kafkas beklemmende Sprache wirkt über weite Strecken aufgesagt. Wären da nicht die lasziv-verführerischen Frauenfiguren (Dagna Litzenberger Vinet) und die ins Kabarettistische überhöhten Auftritte von Siggi Schwienteks Advokat Huld und Klaus Brömmelmeiers Maler Titorelli, man müsste angesichts dieser sehr reduzierten Inszenierung von einem durchwegs langweiligen Abend sprechen.
Der ganze Jammer eines missbrauchten Menschen
Ganz anders Stefan Puchers „Woyzeck“ am folgenden Tag in der groβen Halle des Schiffbaus. Opulenz bezeichnet nur ungenügend den Aufwand, der hier betrieben wurde. Die Bühne (Stefan Laimé/Katharina Faltner), die sich über die ganze Länge der einstigen Montagehalle für Schiffsturbinen erstreckt, ist zugemüllt mit Möbeln, Hausrat, Lebensmitteln, medizintechnischem Gerät und allerlei Gegenständen des täglichen Gebrauchs.
Die Kostüme (Marysol del Castillo) sind schrill, die Musikeinlagen (Christopher Uhe) laut, die Videoprojektionen (Meike Dresenkamp) dominant. Und durch dieses Chaos voller Fallstricke und Hindernisse stolpert Jirka Zetts verstörter Woyzeck in schmutziger Unterwäsche und führt uns den ganzen Jammer eines missbrauchten und an sich selbst irregewordenen Menschen vor.
Unbefangenes Verhältnis zu Büchners Werk
So unterschiedlich der äuβere Auftritt, so verschieden ist auch der Umgang der beiden Regisseure mit der literarischen Vorlage: Während Barbara Frey ganz nah am Text bleibt, hat Stefan Pucher ein recht unbefangenes Verhältnis zu Büchners Werk.
Ähnlich wie Tom Waits, der dieser Inszenierung zweifellos Pate gestanden hat, setzt er auf die starke physische Präsenz der Figuren – Henrike Johanna Jörissens Marie und Jan Bluthardts Tambourmajor vor allem – sowie die suggestive Kraft der Musik, wenn es darum geht, dem Fragment gebliebenen Stück seine innere Kohärenz zu geben. Leider bleiben bei ihm die Songs, anders als bei Tom Waits, bloβes Zubehör und täuschen durch ihr modisch gewordenes Englisch eine Aktualität vor, die Büchners waghalsiger Text gar nicht nötig hat.
Assoziationen an Politskandale sind berechtigt
Aktualität beziehen beide Figuren – Büchners Soldat Woyzeck ebenso wie Kafkas Prokurist Josef K. – aus sich selbst heraus. Und ob gewollt oder nicht, lassen sie durchaus eine Art innere Verwandtschaft erkennen. Denn Opfer eines korrupten, menschenverachtenden Systems werden sie beide. Bei Woyzeck ist es das Militär im Verbund mit einer sich zusehends hybrid gebärdenden Wissenschaft, bei Kafka eine Gerichtsmaschinerie, die wehrlose Menschen sich selbst entfremdet und sie am Ende vernichtet.
Assoziationen an ideologische Verirrungen und Politskandale unserer Tage sind durchaus berechtigt. Doch glücklicherweise haben beide Inszenierungen auf vordergründige Aktualisierungen verzichtet und es dem Publikum überlassen, sich seine Gedanken zu den Kernaussagen der Stücke zu machen.
"Wie ein Hund" hingerichtet
Im „Prozess“ sind Laptop und Handy die einzigen Utensilien, die aus der Zeit fallen. Ansonsten wirkt dieser Bankangestellte Josef K. so grau, so unpersönlich, so gefühlsamputiert, wie viele seiner Berufskollegen es heute noch tun. Und es passt durchaus zu ihm, dass er sich gegen die Übergriffe auf seine Person nicht wehrt, sondern sich der gleichen Mittel zu bedienen versucht, die ihn vernichten werden. Szenen wie diejenigen mit dem Anwalt oder dem Maler zeigen auf beklemmende Weise, wie ein Mensch sich im Labyrinth der Gesetze selbst verliert. Am Ende wird Josef K „wie ein Hund“ hingerichtet. Man sieht es nicht, man hört es nur, und das ist einer der stärksten Momente der Inszenierung.
Ein Mord, „ein guter Mord, ein echter Mord, ein schöner Mord“ steht auch am Ende von Büchners „Woyzeck“. Im Original ist es der Polizist, der dieses Urteil spricht. Pucher hingegen legt es einer Figur in den Mund, die bei Büchner so gar nicht vorkommt: dem Narren. In Irm Hermanns unheimlicher Interpretation kommt dieser grell daher wie ein Schaubudenbesitzer, der die Figuren an unsichtbaren Fäden ihrem Schicksal zuführt. Keine schlechte Idee, um sichtbar zu machen, wie fremdgesteuert dieser arme Teufel Franz Woyzeck im Grunde ist.
Am stärksten prägte sich denn auch jene Szene ein, da dieser wie ein gehetztes Wild durch die Gegend rennt, kopflos, orientierungslos, nach Hilfe suchend, wo keine ist, und so das Ende der Geschichte als unausweichlich erscheinen lässt. Nur, schneiden wie an einem „offenen Rasiermesser“ konnte man sich an diesem Woyzeck gleichwohl nicht. Dafür war die Inszenierung zu üppig. Das war zwar schön fürs Auge. Der kalten Verzweiflung von Büchners Stück wurde es nicht unbedingt gerecht.