Es gehe jetzt darum, „die besonders Verletzlichen“ zu schützen, meinte Simonetta Sommaruga, als die Pandemie-Massnahmen des Bundes verkündet wurden. Gemeint waren damit natürlich vor allem ältere Menschen. Aber es gibt noch eine andere Risikogruppe, die ihr als gute Sozialdemokratin genauso wichtig sein müsste: die ökonomisch besonders Verletzlichen, all jene, die in prekären Verhältnissen leben und für die der Einbruch eine existenzielle Bedrohung ist.
Dazu gehören wenig Qualifizierte, Leiharbeiter, Gastronomieangestellte auf Stundenbasis, Kleinselbstständige verschiedener Berufsgattungen – und eben auch ein grosser Teil der Freischaffenden im Kulturbereich.
Als der Bund und Suisseculture Sociale 2007 und 2016 Berichte zu den Einkommensverhältnissen von Kulturschaffenden veröffentlichten, kam die finanzielle Tristesse ans Licht. Je nach Sparte waren es 40’000, 30’000 Franken und weniger, Tendenz sinkend zwischen den Erhebungen.
Entsprechend nicht vorhanden sind Reserven, um die Konsequenzen der Krise zu überstehen. Während kein Tag vergeht, an dem nicht über gesundheitliche Risikien berichtet wird, stirbt die Basis der Kultur ökonomsch einen stillen Tod.
Kultur ist nicht gleich Prekariat
Von den Milliarden, die als Ausgleichsmassnahmen ausgeschüttet werden, kommen bei Kulturschaffenden zwar auch Millionen an – „Millionen in Rappen“, wie eine Userin auf Facebook ironisch kommentierte und dazu die SVA- (Sozialversicherungsanstalts-) Entschädigung einer Künstlerin in der Höhe von stolzen 420.55 postete. Der Tagessatz von 196 Franken wird bei einem früheren Monatseinkommen von ca. 7000 Franken ausbezahlt, einem Betrag, von dem die meisten Freischaffenden im Kulturbereich nur träumen können.
Natürlich ist Kultur nicht gleich Prekariat. Neben den Stars, die das Image von Überfluss prägen und ein paar Erbmillionären, deren soziales Netzwerk praktischerweise oft auch bis tief in Förderjurys reicht, gibt es auch eine gut versorgte und abgesicherte „normale“ obere Hälfte.
Dazu gehören allerdings in erster Linie jene, die eine Festanstellung haben – oft natürlich in Kulturinstitutionen. Also Personen, die zwar zum Kulturbereich gehören, aber keine Kultur schaffen, sondern sie programmieren, ausstellen, lehren oder verwalten. Hier entsprechen Saläre den Ansätzen anderer Wirtschaftsbereiche – und sie werden, Krise hin oder her, weiter ausbezahlt.
Die Freischaffenden dagegen – also das, was man sich landläufig unter einem „freien Künstler“ vorstellt – finden sich überwiegend in der unteren Hälfte, bei der unterbezahlten und kaum abgesicherten Basis, der Creative Class, die ironischerweise einen bedeutenden Teil des Contents liefert, der ein paar Gehaltsstufen weiter oben programmiert und verwaltet wird.
Risiko und Selbstausbeutung
Die marktwirtschaftliche Vorstellung, materieller Erfolg sei eben Ausdruck von mehr Fleiss und Talent, also ein Selektionsmerkmal, trifft gerade im Kulturbereich nicht zu. Natürlich gibt es einige, die sich berufen fühlen, es aber leider einfach nicht sind. Aber die Liste von Genies, die an der Armutsgrenze lebten, ist Gegenbeleg genug. Im Normalfall ist die Einkommensschwäche systembedingt. Honoraransätze gehen von fiktiver Regelmässigkeit aus, nehmen Selbstausbeutung als handelsüblich an und rechnen die Scheinwährung Status dazu.
Freischaffende nehmen – eigenverantwortlich – den Risikobereich der Kultur auf sich, aber das Risiko bildet sich in den Honoraren nicht nicht ab. Auch wird politisch kaum kontrolliert, was von Subventionsmillionen unten ankommt. Zum Prinzip Selbstausbeutung tragen die Kulturschaffenden natürlich auch selber bei, aber bei ihnen gehört es zur psychischen Grundkonstellation, ohne die keine Kultur entsteht.
Einkommenspyramide als Lehrbeispiel
Im Zweifelsfall ohne sichere Gewinnaussicht schaffen zu wollen, ist ja gerade das Unterscheidungsmerkmal zu „bürgerlichen“ Berufen. Was als Ausgleich dazu fehlt, ist eine spartenübergreifende „Gewerkschaft Kultur“. Ein Streik würde den Beitrag der Geringverdienenden sichtbar machen. Leere Zelte beim Theaterspektakel, leere Stühle bei Lesungen, leere Wände in Museen.
Die sogenannte Kreativwirtschaft, die mit einem Umsatz von rund 22 Milliarden Franken etwa 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts erwirtschaftet, also mehr als die Landwirtschaft, zeigt eine Einkommenspyramide, die als marxistisches Lehrbeispiel dienen könnte. Nur ist die breite Basis kein Lumpenproletariat, sondern besteht aus überdurchschnittlich Gebildeten und Talentierten, deren intellektueller Mehrwert nach oben umverteilt wird.
Die Stimmen der Privilegierten
In den Medien ist davon wenig zu hören. Werden Kulturschaffende zum Thema Pandemie befragt, sind fast ausschliesslich die Stimmen der Privilegierten zu hören. Der Podcast eines Erbmillionärs, das Covid-Tagebuch eines Schauspielhausdirektors, da und dort etwas Sinnieren über Kapitalismus und Verzicht. Ein Text der Autorin Anna Miller beginnt mit: „Jetzt diese Stille. Hier sitzen und nichts mehr müssen. Der Nagellack, der von den Nägeln blättert, ohne dass ich mich dafür schämen muss.“
Ein Text einer Autorin, der gerade die Nerven abblättern, weil sie nicht weiss, wie sie das Jahr wirtschaftlich überleben soll, wäre das fehlende Gegenstück. Vielleicht will sich niemand als Prekariatsangehöriger outen. Aber es wirkt doch eher, als wollten man von Kulturseite auch nichts hören. Dabei verbirgt sich genau hier das grosse Thema, dass Überleben in einer Pandemie in erster Linie eine soziale Frage ist.
Wie schon zu Boccaccios Zeiten
Wie schon zu Boccaccios Zeiten können sich auch heute Privilegierte in ihre Zweitwohnsitze auf dem Land zurückziehen und warten, so lange es ihnen beliebt. Wer sich das nicht leisten kann, muss in den ÖV ohne Maskenpflicht zur Arbeit und steckt sich halt an. Die Möglichkeit zum Social Distancing ist soziales Privileg.
Ganz vergessen ging die Notlage nicht. Verbände haben sich eingesetzt, ein Topf wurde zur Verfügung gestellt. Es wurde ein Flickenteppich daraus. Drei Anträge, SVA, kantonale Kulturstelle, Suisseculture Sociale, Steuerbescheinigungen aus Jahren, die nichts über andere sagen, Angaben zu durchschnittlichem Monatsgehalt, das es ja gerade nicht gibt, und alles beschränkt auf die Zeit der Massnahmen, obwohl Projekte im Halb- oder Jahresrhythmus entstehen, die Lücke also weit zeitverzögert zu spüren ist. Beiträge sind subsidiär, das heisst, was eine Hand zahlt, wird bei der anderen abgezogen.
Ein Grundeinkommen – nicht bedingungslos
Und alles auf gut Glück: „Es existieren keine Rechtsmittel“, „Es besteht kein Rechtsanspruch“, oder „keine Möglichkeit auf Wiedererwägung“, wird auf den Online-Formularen vermerkt. Man wusste gar nicht, dass so etwas in einem Rechtsstaat überhaupt geht. Natürlich hat es vor allem mit dem gigantischen Verwaltungsaufwand zu tun. Allein deshalb wäre es wohl günstiger gekommen, ein Grundeinkommen auszubezahlen. Es wäre richtig, wenn die Verbände, als einziger Gewerkschaftsersatz, daraus eine konkrete Forderung machten.
Um der Debatte um ein Grundeinkommen den ideologischen Zahn zu ziehen, braucht man nur den Zusatz „bedingungslos“ zu streichen. Es geht um ein Grundeinkommen, gerade unter der Bedingung Pandemie. Man kann den Empfängerkreis auf jene begrenzen, die darauf angewiesen sind – einfach ablesebar an SVA-Deklarationen. Richtig wäre ein Zeitraum von wenigstens einem halben Jahr.
Und realistisch wäre statt von den wünschenswerten 3000 Franken der Volksinitative bei rund 2000 Franken anzusetzen. Und schliesslich sollte das Modell nicht nur für Kulturschaffende, sondern für weitere Freischaffende und Solo-Selbständige gelten. Während der Krise wurden Unternehmen subventioniert, die Dividenden ausschütteten, die Rettung einer ausländischen Fluggesellschaft liess sich der Bundesrat 1,5 Milliarden kosten. Auf ähnliche Grosszügigkeit und Rechtssicherheit warten die „Verletzlichsten“ bisher vergebens.
Rudolph Jula ist Schriftsteller und Regisseur und lebt in Zürich. Zu seinen Werken gehören die Reiseerzählungen „Auf dem Weg nach Damaskus“ und der Fotoessay „Vanishing Syria“. Sein Salon findet regelmässig im Literaturhaus Zürich und im Waldhaus Sils statt.