Genscher hat die Würdigung verdient. Er war einer der Grossen in der deutschen Nachkriegspolitik.
Am 21. März war Hans Dietrich Genscher 89 Jahre alt geworden. Sein Amt als Bundesaussenminister hatte er bereits am 18. Mai 1992 niedergelegt. Und trotzdem fällt es schwer, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass der Mann nicht mehr da sein soll. Es fällt besonders jenen schwer, die ihn, sein politisches Wirken, seine Erfolge, aber auch die schweren Zeiten und Niederlagen mit verfolgt – ja: erlebt – haben. Anders als Walter Scheel, sein Vorgänger im damaligen Bonner Aussenministerium und auf dem Chefsessel der deutschen Liberalen, hat Genscher nie den Gipfelsturm etwa auf das Präsidialamt angestrebt. Dafür aber gestaltete er entscheidend die Geschichte mit. Um es genau zu sagen – Weltgeschichte.
Die Szene auf dem Prager Balkon
In den vielen gedruckten und gesendeten Nachrufen auf Hans-Dietrich Genscher fehlt nie jene Szene vom 30. September 1989 auf dem Balkon der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Damals – es war ein Samstag - befanden sich, zum Teil schon seit Wochen, rund 4000 DDR-Flüchtlingen in den Räumen und auf dem Gelände des hochherrschaftlichen Palais Lobkowitz in der Malá Strana 1 auf der Kleinseite der tschechischen Hauptstadt. Und obwohl Botschafter Hermann Huber und seine Frau alles nur Erdenkliche taten, um den Menschen die Lage zu erleichtern, waren die Zustände in der Enge unerträglich. Alle wollten in die Freiheit, in die Bundesrepublik. In dieser Situation, am Abend, trat Genscher auf den Balkon und sprach die berühmten Worte: „Liebe Landsleute, wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“. Der Rest ging im Jubel unter.
Einer, der seinerzeit hinter dem gefeierten Minister stand, war Rudolf Seiters, heute Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Damals (1989 bis 1991) war der niedersächsische Christdemokrat Minister für besondere Angelegenheiten bei Helmut Kohl im Bundeskanzleramt und damit in erster Linie zuständig für die Verhandlungen mit der immer mehr zerbröckelnden Regierung in der DDR. Und zu diesen Verhandlungen gehörte nicht zuletzt die Befreiung der Flüchtlinge in Prag (wobei nicht vergessen werden sollte, dass ähnliche Verhältnisse im Warschauer Botschaftsgebäude und an diversen Orten in Ungarn herrschten). Seiters hat sich nie beschwert, dass der ganze Ruhm Genscher zufloss, obwohl die mühselige „Kleinarbeit“ bei ihm gelegen hatte. Aber schmale Lippen bekommt der Mann aus Papenburg beim Gedanken an jene Szenen auch heute noch. Richtig, freilich, ist zugleich, dass die damals schon bestehende Freundschaft zwischen dem deutschen FDP-Minister und dem sowjetischen Aussenminister Eduard Schewardnadse bei der Lösung des Flüchtlingsdramas auch eine wichtige Rolle spielte.
Schillernd und schwer zu fassen
Hans-Dietrich Genscher zu beschreiben, ist seinen Zeitgenossen nie leicht gefallen – den schnell schreibenden Journalisten nicht, den Biografen nicht, aber auch nicht der Politiker-Kollegenschaft. Der am 21. März 1927 in Reideburg (heute ein Vorort von Halle/Saale) Geborene war – ohne Zweifel – eine schillernde Figur. Und zwar durchaus im positiven Sinne. In dieser Rolle gefiel er sich auch und genoss es, wenn die begleitende „Umwelt“ versuchte, sich mit Stereotypen an ihm abzuarbeiten. Für den sarkastischen, langjährigen SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, war der bei ihm gerade mal wieder in Misskredit geratene Liberale nur „der Mann mit den Ohren“. Für andere musste immer wieder sein Hang zum gelben Pullunder beim literarischen Porträtieren herhalten.
Irgendwann, es war Ende der 70-er Jahre machte plötzlich der Begriff „Genscherismus“ die Runde. Und der war höchst unterschiedlich gemeint; je nachdem, ob von Freund oder von Feind benutzt. Den einen diente „Genscherismus“ (negativ) als Synonym für allglatte Schlüpfrigkeit – also als Beschreibung einer fehlenden Festigkeit. Andere, wiederum, übersetzten das Wort positiv (und ganz sicher richtiger) als die Fähigkeit, zwar geschmeidig und wendig, aber dennoch zielstrebig und zäh an eine schwierige Aufgabe heranzugehen. Es stimmt, es gibt nicht von Genscher nicht viele Aussagen, in denen man frühzeitig feste Absichten oder gar politische Festlegungen hätte erkennen können. Und das immerhin bei einem Mann, der – wie kein anderer in der „Bonner Republik“ – serienweise Interviews gab, ja die meisten sogar selbst inszenierte. Genschers Lieblingssender war der „Deutschlandfunk“, bei dem er sich nahezu tagtäglich schon frühmorgens äusserte und damit zumindest für ein paar Stunden das politische Thema des Tages vorgab. Der frühere Programmdirektor des Kölner Senders, Günter Müchler, spricht heute noch schmunzelnd von „unserem fleissigsten freien Mitarbeiter“. Genschers Ehrgeiz war, ohne Zweifel, im Mittelpunkt zu stehen – diesen aber auch selbst zu bestimmen.
Zwischen Pech und Wahn – das Auswärtige Amt
Zumindest geografisch ergab sich dieses Zentrum in den 18 Jahren von Genschers Zuständigkeit für die (zunächst bundes- und später kurz auch gesamtdeutsche) auswärtige Politik fast sprichwörtlich automatisch und diente natürlich immer wieder gern für journalistische Sprachschöpfungen. Denn das Auswärtige Amt in Bonn lag ziemlich genau in der Mitte zwischen (Genschers Wohnort Wachtberg-)Pech und dem (Köln-Bonner Flughafen) Wahn. Das Wohnhaus am Rande des Kottenforsts war sein Rückzugsort, soweit man bei der Rastlosigkeit des Mannes überhaupt von einem solchen sprechen kann. Und der Regierungs-Flugplatz auf der anderen Rheinseite galt nicht Wenigen als Genschers zweites Daheim. Es ist nicht bewiesen, dass der einstige US-Aussenminister Henry Kissinger der Erfinder des Witzes war, aber er wurde immer gern als Beweis für Genschers unermüdliche Teilhabe am Weltgeschehen herangezogen: „Treffen sich zwei Flugzeuge über dem Atlantik. In einem sitzt Genscher. Und im andern? Ebenfalls Genscher…“
Genscher hat das AA – also das Auswärtige Amt – geprägt wie kein Zweiter. Auch personell. Bis hinunter dem Amtsboten. Zu „Bonner Zeiten“ wies der Wahlbezirk um die Behörde bei Wahlen nicht zufällig immer die mit Abstand höchsten Ergebnisse für die Freien Demokraten auf. Im Innenbetrieb lag sein besonderes Augenmerk auf der Pressestelle. Die musste funktionieren wie geölt Übersetzt hiess das: Der Minister musste täglich in den Schlagzeilen erscheinen – und zwar positiv. Ein langjähriger Mitarbeiter beschrieb das einmal so: „Genscher verlangt von seiner Umgebung einen bedingungslosen Einsatz rund um die Uhr. Aber er belohnt die guten Leute später auch mit attraktiven Posten. Das unterschied ihn von Helmut Kohl“. Kein Zweifel, dass Hans-Dietrich Genscher Freude an der auswärtigen Politik gehabt hat. Aber er hat sich auch dafür aufgerieben.
Gesundheitlich immer auf der Kippe
27. September 1989, New York. Jeder, der auch nur einigermassen politisches Gespür hatte, konnte sehen, dass die kommunistischen Regime in der DDR und in den anderen osteuropäischen Ländern immer schneller zerbröselten. Neben den Vorgängen in Ost-Berlin (und natürlich um Gorbatschow in Moskau) spielte in jenen Monaten Polen eine wichtige Rolle für die Bonner Politik. An jenem 27. September versicherte der AA-Chef im Plenarsaal des UNO-Gebäudes vor der Weltgemeinschaft, „dass die Unverletzlichkeit der Grenzen (also auch der Oder/Neisse Grenze, d. Red.) Grundlage des friedlichen Zusammenlebens in Europa ist“. Was nur wenige Beobachter wussten: Hinter einer Säule stand Genschers Arzt mit einem Notfallkoffer. Ende Juni 1989 hatte der Minister (wieder einmal) einen schweren Herzinfarkt erlitten. Und auf dem Flug nach New York befand sich das Equipment einer mobilen Intensivstation mit an Bord des Luftwaffen-Airbus. Und genauso war es wenige Tage später bei der berühmten Szene auf dem Balkon der Botschaft in Prag.
Noch einmal – die Aussenpolitik war Hans-Dietrich Genschers Lebenselixier. Aber vorbestimmt war sie ihm nicht. 1944, als Jugendlicher, wurde er noch als Flakhelfer eingezogen. In späteren Jahren bekannte er, dass ihn die damaligen Erlebnisse „im Grund meines Herzens zum Pazifisten“ gemacht hätten. Noch vor Ende des Krieges bekam er eine schwere Tuberkulose, die ihn drei Jahre lang von einer Klinik in die andere und in zahlreiche Lungenheilanstalten zwang. Seither besass er auch nur noch einen Lungenflügel – Ursache für zahlreiche spätere, teils lebensbedrohliche Erkrankungen. Genscher studierte Jura, machte das erste juristische Staatsexamen, flüchtete jedoch 1952 mit seiner Mutter (der Vater war frühzeitig gestorben) aus der Sowjetzone in den Westen, wo er sich der FDP anschloss.
Trotz Krisen politisch überlebt
Weitere Kurzbiografie: 1956 holte der (vor allem wegen seiner Streitlust) legendäre Freidemokrat Thomas Dehler den inzwischen in Bremen als Anwalt tätigen Genscher als Assistenten in die FDP-Bundestagsfraktion. Wenig später wurde er deren Geschäftsführer, 1965 erstmals Bundestagsabgeordneter. Und als 1969 Willy Brandt und Walter Scheel für die meisten damaligen Beobachter überraschend die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP verkündeten, wurde Hans-Dietrich Genscher Bundesinnenminister. In jener Zeit durchlief er die gewiss schlimmsten Krisen seines politischen Lebens. Da war, erstens, das Attentat palästinensischer Terroristen während der Olympischen Spiele 1972 im München mit dem tödlich misslungen Versuch zur Befreiung der israelischen Geiseln. Genscher blieb dennoch im Amt, reformierte grundlegend das Bundeskriminalamt und schuf die (später in Mogadischu erfolgreich eingesetzte Antiterror-Einheit GSG 9). Und da war, zweitens, die Affäre um den an der Seite von Bundeskanzler Willy Brandt platzierten DDR-Spion Günther Guillaume 1974. Die Rolle des damaligen Innenministers Genscher dabei ist nie völlig aufgeklärt worden. Angeblich hat er (im Wissen um Guillaumes Tätigkeit) versäumt, den Regierungschef zu warnen. Brandt (im Hintergrund wirkte Wehner) trat zurück, Genscher blieb – trotz heftigster Angriffe aus den Reihen des sozialdemokratischen Koalitionspartners.
Scheel will unbedingt Präsident werden
Auf Willy Brandt folgte Helmut Schmidt als Bundeskanzler. Und Hans-Dietrich Genscher folgte dem bisherigen FDP-Vorsitzenden Walter Scheel als Aussenminister. Denn Scheel hatte die sozialliberalen Koalitionäre dazu verpflichtet, ihm – komme, was da wolle - ihre Stimme bei der vom ihm schon lang ersehnten Wahl zum Bundespräsidenten zu geben. Das SPD/FDP-Bündnis hielt dann immer noch acht Jahre, bis es im Herbst 1982 platzte und der Christdemokrat Helmut Kohl über ein Konstruktives Misstrauensvotum mit den Stimmen der Freien Demokraten zum Bundeskanzler gewählt wurde. Hierbei erlebte Genscher seine dritte grosse Krise. Denn, obwohl für das Ende der Koalition in allererster Linie die Sozialdemokraten verantwortlich waren, schaffte es Helmut Schmidt mit Hilfe seines geschickten Regierungssprechers Klaus Bölling, den Liberalen die Verräter-Kappe aufzusetzen. Tatsächlich aber waren zwei Vorgänge ursächlich: Die SPD rückte mit immer grösserer Geschwindigkeit von dem – auf Drängen Schmidts erfolgten – NATO-Doppelbeschluss zur westlichen Nachrüstung mit Mittelstrecken-Raketen ab. Und sie weigerte sich zudem, die von Schmidt zur Haushalts-Konsolidierung geforderten „sozialen Einschnitte“ mitzumachen.
Der vor allem von Genscher und dem Wirtschaftsexperten Otto Graf Lambsdorff Initiierte Koalitionswechsel stiess die FDP in eine bedrohliche Existenzkrise; zahlreiche, vor allem jüngere, Vertreter des linksliberalen Flügels verliessen die Partei. Doch Genscher, inzwischen FDP-Vorsitzender, konnte die Spaltung abwenden. Mehr noch – zum Erstaunen vieler Beobachter setzte Kohl die (zuvor von CDU und CSU heftigst bekämpfte) Politik seines Vorgängers in Richtung Osten fort. Und Genscher entwickelte sich mehr und mehr zur Speerspitze eben dieser Bemühungen um Ausgleich und Versöhnung. Es war der Aussenminister, der – früher noch als der Kanzler – die Ernsthaftigkeit von Michail Gorbatschow erkannte (zumindest aber an sie glaubte), mit der von ihm verkündeten Perestroika voranzugehen.
Washington ist misstrauisch
Das ging nicht ab ohne disharmonische Begleitmusik. Vor allem der amerikanische Hauptverbündete reagierte zunehmend nervös bis misstrauisch auf die mitunter als allzu „selbstbewusst“ empfundenen Bonner Bemühungen in Richtung Osten. Auch der bereits erwähnte Henry Kissinger bekannte erst vor gar nicht so langer Zeit, dass er Genschers Talente politische Bemühungen relativ spät erkannt habe. Der AA-Chef wurde nicht müde zu predigen, dass der Dialog vor allem zwischen den Vertretern unterschiedlicher Interessen nicht abbrechen dürfe. In der Tat war das der innerste Kern des sogenannten „Genscherismus“: Wenn eine Tür verschlossen zu sein schien, müsse man es halt an einer anderen Pforte versuchen.
Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher hatten sich schon sehr frühzeitig geduzt. Wirkliche Freunde jedoch sind sie nie geworden. Umso eindrucksvoller war die – von nur wenigen Augenzeugen beobachtete – Szene am Ende der Pressekonferenz nach dem deutsch-sowjetischen Spitzentreffen im im Sommer 1989 im Kaukasus. Soeben hatte Helmut Kohl den Katalog mit den (zuvor kaum für möglich gehaltenen) Ergebnissen zur deutschen Einheit und zur NATO verlesen. Da reichten sich Kanzler und Aussenminister verstohlen die Hand und sagten leise zu einander: „Wir waren ein gutes Team“. Als Hans-Dietrich Genscher im Mai 1992 vom Aussenamt zurücktrat, war das für Viele unbegreiflich. Im Nachhinein erscheint der Schritt logisch. Genscher hatte das geleistet, was er stets als „Dienst am Vaterland“ bezeichnete.
Seinen Frieden gemacht
Und er hat danach mit Manchem auch seinen Frieden gemacht und geschlagene Wunden vernarben lassen. Dazu gehörten nicht zuletzt Helmut Schmidt und dessen langjähriges „Sprachrohr“ Klaus Bölling. Was Genscher den Beiden Jahrelang nicht verziehen hatte, war ein Passus in dem von Bölling geschriebenen „Tagebuch der letzten 30 Tage“ vor dem Ausscheiden der FDP aus der Koalition mit der SPD im September 1982. Es ging um den Besuch des Bundeskanzlers im Dezember 1981bei SED-Chef Erich Honecker. Dieser hatte, natürlich mit Blick auf Genscher und dessen Geburtsort Halle, zu Schmidt gesagt: „Passen Sie gut auf, Herr Bundeskanzler. Es gibt Halloren, Hallenser und Halunken“.
Darüber konnte der Hallenser zwar bis zum Schluss nicht lachen. Aber er hatte, wenn die Rede auf diesen Vorgang kam, zur Entspannung der Stimmung zumeist einen Witz auf Lager, über den er dann in aller Regel auch gleich am lautesten lachte. Einer davon ging so: Eva fragt Adam: „Liebst Du mich noch?“ Darauf Adam: „Wen denn sonst?“.