Nur drei Monate vor dem 40. Jahrestag des Beginns der chinesischen Wirtschaftsreform hat US-Präsident Trump die Schraube im Handelskrieg nochmals angezogen. Weitere chinesische Güter im Wert von 200 Milliarden Dollar werden mit Strafzöllen belegt. Peking konterte alsogleich mit Strafzöllen auf amerikanische Importwaren im Werte von 60 Milliarden Dollar. Trump drohte zusätzlich, die verbleibenden chinesischen Waren im Werte von 260 Milliarden Dollar bald mit Strafzöllen zu belegen, falls China nicht einlenke.
Was Lehrbuch-Klassiker sagen
Der Handelskrieg zwischen der weltweit grössten und zweitgrössten Volkswirtschaft wird Folgen haben, die allerdings schwer abzuschätzen sind. Zu Beginn der Industriellen Revolution vor über zweihundert Jahren haben die Ökonomen Adam Smith und David Ricardo den freien Handel als Quelle des allgemeinen Wohlstandes beschrieben.
Weniger Handel bedeutet so nach dem Lehrbuch etwa geringeres Produktivitätswachstum, weniger Wirtschaftsaktivitäten, verzerrte Preise, mehr Ineffizienz, geringere Nachfrage und Abnahme der Investitionen.
China verliert
Rein rechnerisch wird China beim Handelskrieg mit Amerika mehr leiden. So hat das Reich der Mitte im vergangenen Jahr Waren im Werte von 500 Milliarden Dollar nach Amerika exportiert, während die USA nur Waren im Werte von 130 Milliarden Dollar nach China sandte. Oder anders herum: Chinas Exporte nach den USA machten 19 Prozent aller chinesischen Exporte aus. Die amerikanischen Exporte nach China dagegen beliefen sich lediglich auf 8 Prozent.
Obwohl China seit wenigen Jahren daran ist, sein Entwicklungsmodell zu verändern, weg von der Werkhalle der Welt hin zur nächsten Stufe der Wertschöpfung und hin zu Dienstleistungen und zu Konsum, spielt der Handel mit 20 Prozent des Brutto-Inlandprodukts noch immer eine überragende Rolle.
Gift
Es wird viele Verlierer geben, nicht zuletzt die Weltwirtschaft mit einem möglicherweise geringeren Wachstum. Die Unsicherheiten sind Gift für Neuinvestitionen. Doch China wird wegen der nach wie vor bestehenden Handelsabhängigkeit wohl mehr unter dem Konflikt leiden als Amerika.
Doch auch in den USA gibt es Verlierer, zumal im Agrarsketor mit den Soya- und Weizenbauern im Mittleren Westen. Sie müssen jetzt neue Märkte suchen. Das allerdings wird schwierig, weil wegen des sino-amerikanischen Handelsdisputs die gut eingespielten und funktionierenden globalen Lieferketten zum Teil unterbrochen sind und restrukturiert werden müssen. Firmen weltweit und besonders in China werden gezwungen, zu diversifizieren und die Produktion zu verlagern, zum Beispiel von China nach Vietnam, Kambodscha, Indonesien, Bangla Desh, Pakistan oder Mexiko. Nicht aber in die USA.
Chinesische Firmen wiederum, die bislang abhängig von amerikanischer IT-Technologie waren, werden sich nach neuen, billigeren Lieferanten umsehen. Mit andern Worten, es wird ein neuer asiatischer Handelsblock entstehen mit China und Indien im Mittelpunkt.
Pragmatisches Entwicklungsmodell
China wird sich unter Druck der Situation wie so oft pragmatisch anpassen und wohl die ins Stocken geratenen Wirtschaftsreformen neu lancieren. Rechtzeitig zum 40. Jahrestag des Beginns der Wirtschaftsreform nach den sowjetische geprägten Anfangsjahren (1949-58), dem Grossen Sprung nach Vorn (1958-61) mit der katastrophalen Hungersnot und den Jahren des Chaos unter der von Mao entfachten Grossen Proletarischen Kulturrevolution (1966-76).
Anfangs Dezember 1978 nämlich hat der grosse Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping, damals für China und die Welt völlig überraschend, die Wirtschaftsreform mit einem pragmatischen Entwicklungsmodell ermöglicht. Es wurde zum erfolgreichsten Modell in der Geschichte der Menschheit.
Über den Handelskrieg hinaus
Hinter dem Handelskrieg freilich verbergen sich grössere, weitreichendere Konflikte. Nach US-Präsident Trump geht es derzeit nicht nur um den bilateralen Handel, sondern auch um Investitions-, Technologieaustausch und mehr: «China versucht, die amerikanische Wirtschaft zu unterminieren, sowie unsere Interessen und unsere Werte anzugreifen.»
Chinas Staatsmedien wiederum unterstellen Trump seit einigen Monaten, wohl nicht ganz zu Unrecht, eine versteckte Agenda: Ziel der amerikanischen Handels- und Investitions-Restriktionen sei es, Chinas Fortschritt zu hemmen und Chinas globale Rolle zu verhindern.
Wendepunkt
Chinas Aussenminister Wang Yi brachte es Ende September an der Uno-Vollversammlung in New York auf den Punkt: «Ein Glas ist schnell zerbrohen, aber schwierig zu reparieren.» Die bilateralen Beziehungen mit den USA, so Wang, stünden an einem Wendepunkt. Washington müsse wählen, ob Peking ein Partner oder Rivale sei.
An einem Empfang zum chinesischen Nationalfeiertag am 1. Oktober in Washington sagte Chinas Botschafter Cui Tiankai, die USA und China stünden vor einer «historischen Wahl»: «China hat seine Wahl bereits getroffen. Wir bekennen uns zu den Prinzipien `kein Konflikt`, `keine Konfrontation`, `gegenseitiger Respekt` und `Win-Win-Zusammenarbeit` mit den USA.»
Pax Americana – Pax Sinica
Präsident Donald Trump wird – um nicht nur als schlitzohriger Deal-Maker sondern auch als verantwortungsvoller Politiker in die Geschichte einzugehen – die seit dem Zweiten Weltkrieg herrschende Pax Americana den neuen historischen Umständen einer wieder auflebenden Pax Sinica anpassen müssen. Ansonsten könnte der sino-amerikanische Handelskrieg noch zwanzig Jahre andauern, wie Jack Ma Yun, der Vorsitzende der mächtigen Alibaba Group Holding, voraussagt. Mit nicht vorhersehbaren Folgen für Amerika, China und die Welt.