Er habe „keine Illusionen“, sagte Putin am Abend nach dem Ende des dreistündigen Treffens mit Joe Biden. Die USA hätten Russland als Feind bezeichnet, der in die Schranken verwiesen werden müsse. Eine Freundschaft gebe es nicht. Doch er habe „ein Fünkchen Hoffnung“, dass in Zukunft Vertrauen hergestellt werden könne.
Soweit ist es noch nicht. Weitere Treffen haben die beiden Präsidenten in Genf nicht vereinbart. Keiner hat den andern zu sich eingeladen. „Es ist schwer zu sagen, ob sich die Beziehungen verbessern werden“, sagte Putin. Demgegenüber sagte Biden am Abend, es gebe „eine echte Aussicht auf eine Verbesserung des Verhältnisses, ohne dass wir das Grundsätzliche aufgeben“. Doch die Nagelprobe stehe noch bevor.
Drohungen habe es keine gegeben, sagte Biden am Abend. „Ich habe ihm klar gesagt, wo wir stehen und was wir zusammen erreichen können.“ Er habe ihm auch gesagt, wie die USA reagieren würden, wenn es Verstösse gebe.
Im Mittelpunkt der Verhandlungen stand die Cyberkriminalität. Biden verlangte von Putin, dass die Hackerangriffe auf amerikanische Einrichtungen aufhörten. Putin erklärte stets, Russland habe nichts damit zu tun. Schon im Vorfeld drohte Biden mit Vergeltung. Sollten die Hackerangriffe weitergehen, so „weiss er, dass ich Massnahmen ergreifen werde“, sagte Biden. „Wir werden das nicht einfach akzeptieren.“
Ob eine militärische Reaktion eine angemesse Antwort wäre, wenn rote Linien überschritten werden, etwa beim Einsatz der Erpressungssoftware Ransomware, wurde Biden gefragt. Man habe nicht darüber gesprochen, sagte er.
Putin erklärte an der Medienkonferenz, man habe sich geeinigt, Beratungen zum Thema Cybersicherheit zu beginnen. Er betonte jedoch, dass die meisten Hackerangriffe nicht von Russland, sondern von den USA und Kanada ausgingen. Russland habe den USA viel Unterstützung angeboten, doch bisher keine Antworten bekommen. Er verneinte kategorisch eine russische Beteiligung an einem Cyberangriff auf eine amerikanische Pipeline. Russland habe nichts damit zu tun.
Kein Kalter Krieg
Biden seinerseits sagte an seiner Medienkonferenz, die bei 30 Grad im Freien stattfand, Putin wolle keinen neuen Kalten Krieg mit den USA. Das sei das Letzte, was er wolle. China dränge vor, militärisch und wirtschaftlich, aber Russlands Wirtschaft sei schwach. Ein Kalter Krieg sei nicht die Art der Beziehung, die er mit den USA haben wolle.
Rückkehr der Botschafter
Der russische Präsident sagte, die USA und Russland hätten sich auf eine Rückkehr der Botschafter nach Moskau und Washington geeinigt. Diese waren im Zuge der wachsenden Spannungen zwischen den beiden Staaten teilweise abgezogen worden.
Das Treffen hatte um 13.30 Uhr begonnen und ging kurz vor 17.00 Uhr zu Ende.
Von Sotschi kommend
Putin war an Bord der Präsidentenmaschine, einer Iljuschin-96-300 kurz vor 13.00 Uhr von Sotschi kommend auf dem Genfer Flughafen Cointrin eingetroffen. Er wurde am Flughafen nicht – wie Joe Biden am Dienstag – von Bundespräsident Guy Parmelin empfangen. Laut Angaben des Genfer Stadtpräsidenten Frédérique Perler hat Putin gewünscht, auf „einen protokollarischen Empfang am Flughafen“ zu verzichten.
Putin fuhr nach seiner Ankunft mitten durch die Stadt über die Mont-Blanc-Brücke in die Villa La Grange im Genfer Quartier Eaux-Vives.
Hier fand das Gipfeltreffen statt, und hier wurde Putin von Guy Parmelin empfangen.
Anschliessend traf Joe Biden ein. Nach einem Händeschütteln für die Fotografen und Kameraleute haben Biden und Putin „unter vier Augen“ (mit ihren Dolmetschern) ihre Gespräche begonnen.
Chaotische Szenen
Während des Fotoshootings zu Beginn des Gipfels kam es zu wüsten Szenen. Die „Politico“-Korrespondentin des Weissen Hauses, Anita Kumar, sprach von der „chaotischsten Medienschlacht in ihrer neunjährigen Karriere“. Journalisten, Fotografen und Kameraleute hatten sich angeschrien und weggeschubst. Schliesslich griffen russische Sicherheitsbeamte ein, schubsten ihrerseits die Medienleute und forderten sie auf, den Raum zu verlassen. Anita Kumar selbst wurde mehrmals gestossen und fiel fast auf den Boden. Anschliessend griffen auch amerikanische Sicherheitsleute ein.
Nach dem Händeschütteln sagte Putin zu Biden: „Ich möchte Ihnen für die Initiative danken, sich heute zu treffen. Es haben sich in den amerikanisch-russischen Beziehungen eine Menge Themen angesammelt, die ein Treffen auf höchster Ebene erfordern, und ich hoffe, dass unser Treffen produktiv sein wird.“
Biden sagte, er strebe „vorhersehbare und rationale“ Beziehungen zu Russland an. „Ich denke, es ist immer besser, sich von Angesicht zu Angesicht zu treffen und zu versuchen, herauszufinden, wo wir gemeinsame Interessen haben und wo wir kooperieren können.“
Später stiessen die Delegationen dazu, unter anderem die Aussenminister Antony Blinken und Sergej Lawrow. Nach Angaben des „Restaurant des Eaux-Vives“ wurden die beiden Präsidenten und ihre Delegationen während dem Treffen mit „petit snacks“ bewirtet.
Biden verliess nach Ende der Gespräche die Tagungsvilla Richtung Hotel Intercontinental. Zunächst trat Putin vor die Medien. Eine gemeinsame Medienkonferenz war von Anfang an nicht geplant.
Nawalny
Putin erklärte, zur Sprache sei auch Bidens Vorwurf gekommen, er, Putin, sei ein „Killer“. Offenbar wurde dieses Thema friedlich geregelt. Mehr sagte Putin dazu nicht. Er habe Dutzende solcher Vorwürfe gehört. Das kümmere ihn nicht.
Auch das Thema Alexej Nawalny wurde angesprochen. Dieser habe das Gesetz ignoriert, sagte Putin. Er hätte gewusst, dass er verhaftet würde, sei aber nach Russland zurückgekehrt. Er sei bereit gewesen, festgenommen zu werden.
In diesem Zusammenhang erwähnte der russische Präsident „die tägliche Waffengewalt in den USA“ und „eine lange Reihe von amerikanischen Rechtsverletzungen“. Er wolle in Russland „keine Unruhen wie Black Live Matters in den USA“.
Ukraine
Zur Sprache kam auch der Ukraine-Konflikt. Putin warf der ukrainischen Regierung vor, eine Vereinbarung zur Beendigung des Konflikts zwischen pro-russischen Separatisten und den Regierungstruppen gebrochen zu haben. Eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sei nicht zur Sprache gekommen.
Putin betonte, er habe auch die westlichen Sanktionen gegen Russland angesprochen. Er hoffe, dass nach diesem Gipfeltreffen Schritte eingeleitet würden. Die Sanktionen würden sowohl die amerikanische als auch die russische Wirtschaft treffen. Solche Sanktionen „bringen nichts“, sagte er.
Man habe sich nicht umarmt, erklärte Biden. Aber man habe grundsätzliche Dinge besprochen.
Sowohl Biden als auch Putin haben am Abend Genf verlassen.
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Amerikanische Journalisten zeigen sich eher positiv überrascht über das Treffen. CNN erklärt, das Beste sei, dass es nicht zu einem Eklat gekommen sei. Die nahe Zukunft werde zeigen, wie wertvoll die Begegnung gewesen sei.
Biden und Putin sind mit allen Wassern gewaschen. Sie können sich nichts vormachen. Beide hörten die Wünsche und Klagen der anderen Seite an. Putin liess das kalt. Er geht einfach darüber hinweg oder bezeichnet die Vorwürfe als haltlos und weist jede Verantwortung von sich. Niemand hat erwartet, dass er Oppositionelle freilässt oder zugibt, dass Russland hinter der grassierenden Cyberkriminalität und den Hackerangriffen steht. Er wird auch Lukaschenko weiter stützen und seine Drohkulisse in der Ostukraine aufrechterhalten.
Er kam nicht nach Genf, um Konzessionen zu machen. Er kam in die Rhonestadt, um der Welt – und vor allem der eigenen Bevölkerung – zu demonstrieren, dass er auf der gleichen Stufe steht wie der mächtigste Mann der Welt. Dies ist für ihn umso wichtiger, weil Russland längst keine Supermacht mehr ist und auch militärisch weit hinter den USA herhinkt. Und wenn Biden Russland als „Grossmacht“ bezeichnet, ist das reine Schmeichelei.
Für Biden hat das Treffen auch eine innenpolitische Bedeutung. Im Gegensatz zu Trump, der oft mit Putin flirtete, bietet Biden dem Kreml-Chef die Stirn. Er gibt sich als Verteidiger der Demokratie, der Menschenrechte und kritisiert das aggressive militärische Verhalten an den Rändern Russlands.
War der Genfer Gipfel überflüssig? Kurzfristig bewegt hat er wohl nichts. Doch Bidens Drohung, die USA würden es im Cyberkrieg den Russen „mit gleicher Münze heimzahlen“, gibt Putin wohl doch zu denken. Biden hat klar eine rote Linie gezogen. Er akzeptiert die Einmischung russischer Hacker in amerikanische Angelegenheiten nicht – auch nicht in amerikanische Wahlen. Das ist wohl das wichtigste Ergebnis dieses Genfer Treffens. Was Biden nicht sagt: Es ist nicht immer einfach, russische Hackerangriffe zu beweisen.
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Dienstag: Biden mit Parmelin und Cassis
Der amerikanische Präsident war schon am späten Dienstagnachmittag an Bord der Air Force One von Brüssel kommend in Genf eingetroffen.
Im 18-stöckigen Hotel Intercontinental, das die amerikanische Delegation in Beschlag genommen hatte, traf Biden eine halbe Stunde mit Guy Parmelin und Ignazio Cassis zusammen. Die beiden Bundesräte erklärten anschliessend, das Gespräch habe in „einer herzlichen Atmosphäre“ stattgefunden.
Man habe darüber gesprochen, wie man die Handelsbeziehungen verbessern könne. Die Vorgespräche für ein bilaterales Handelsabkommen würden fortgesetzt. Ziel sei es, die „fruchtbaren wirtschaftlichen Beziehungen“ weiter auszubauen. Die zwei Bundesräte betonten ihr Bekenntnis zu den guten Diensten, die die Schweiz weiter leisten und ausbauen wolle. Parmelin äusserte Biden gegenüber den Wunsch, dass die USA zum Multilateralismus zurückkehren würden. Erneuert wurde das Interesse der Schweiz an einem Freihandelsabkommen mit den USA. Biden empfahl den Bundesräten auch den Kauf neuer amerikanischer Kampfflugzeuge.
Mehrere hundert Journalisten aus der ganzen Welt verfolgten das Gipfeltreffen in Genf. Der Pont du Mont-Blanc ist zur Begrüssung der beiden Staatschefs mit 24 amerikanischen und russischen Fahnen geschmückt.
Abgesperrtes Seebecken
Genf hat mit der Betreuung und dem Schutz höchster ausländischer Gäste lange Erfahrung. Seit Jahrzehnen tummeln sich in der Rhonestadt Spitzenpolitiker und Diplomaten. Rund um den La-Grange-Park wurden Gitter installiert. Hunderte Sicherheitskräfte patroullieren. Weite Gebiete rund um das Seebecken sind seit Dienstagnachmittag abgesperrt. Die Luftraumüberwachung wurde verstärkt, einige hundert Schweizer Soldaten wurden für das Treffen abkommandiert. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, die Innenstadt zu meiden.