Nachdem 2013 vielerorts in Europa das hundertjährige Jubiläum einer Tanzaufführung gefeiert wurde, die in verschiedener Hinsicht die Kulturszene (in den Sparten Ballett, Theater, Musik, Kostüme) revolutionierte, kommt jetzt, ein Jahr später, das Migros-Museum in Zürich, und feiert nach. Die Ausstellung «Sacré 101» dauert noch bis zum 11. Mai und besticht durch ihre Originalität. Im Mittelpunkt steht die vom Komponisten Igor Strawinsky, dem Choreografen und Tänzer Vaslav Nijinsky und dem für die Kostüme verantwortlichen Nicholas Roerich konzipierte Uraufführung des «sacre du printemps».
Rekonstruktionen und Deutungen
Mittels einiger Videoinstallationen und vieler bildnerischer Repliken auf das Ereignis lässt sich ein weites Kunstfeld auffächern, in dem der «Sacre» auf alle nur möglichen Arten verstanden, zitiert und weiterentwickelt wird. Die einen setzen beim Inhalt, beim Opferritual, an, das körperlich, psychisch, politisch interpretiert wird; andere spüren den musikalischen und tänzerischen Rhythmen nach, die sie in Formen und Farben übersetzen; wieder andere betreiben eine Art von Archäologie, indem sie die Idee oder das Phänomen des «Sacre» zu rekonstruieren versuchen.
Mit der Rekonstruktion, der Wiedererweckung oder dann der als «authentisch» deklarierten Neuinterpretation des «sacre» beschäftigen sich seit Jahren zahlreiche Künstler. Zum einen könnte man fast meinen, dass der ohrenbetäubende Knall der Skandal bei der Uraufführung noch immer so viel Wirkung, so viel Schubkraft erzeugt, dass sich viele animiert fühlen, sich mit dem Werk auseinanderzusetzen. Mehr als 200 Mal soll die Geschichte einer Tänzerin, die sich als freiwilliges Opfer zur Ehren des Frühlings zu Tode tanzt, seit 1913 neu choreografiert worden sein.
Zum andern reizt gerade die Tatsache, dass sich jede heutige Beschäftigung mit dem «sacre» an einer Unzulänglichkeit reiben muss; es gibt zwar die Musik Strawinskys in gesicherter Partitur, aber von Bühnenbild, Kostümen und von der Choreografie sind uns nur Skizzen, Muster, Bruchteile überliefert. Die Originalaufführung hielt sich nicht lange auf dem Spielplan. Wir sind, was die Aufführung und ihre Rezeption im Pariser Publikum angeht, auf Zeit- und Augenzeugenberichte angewiesen – und davon gibt es zum Glück ein paar hochkarätige.
Ohne Sauce
Wer im damaligen Paris Rang und Namen hatte, nahm an der Uraufführung am 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Elysées teil. Die «Balletts Russes» mit ihrem Impresario Diaghilev und vor allem ihrem Star, dem Tänzer und Choreografen Nijinsky, waren beliebt. Der damals blutjunge Jean Cocteau hat in einem Jahre später publizierten Erinnerungstext den «Sacre»-Skandal genüsslich ausgeweidet und – wie skeptische Experten meinen – ganz schön übertrieben. Harry Graf Kessler, deutscher Schriftsteller, Kunstsammler und Diplomat, schreibt in seinem Tagebuch vom «Höllenlärm», der im Publikum aufkam, von Lachsalven und Buhrufen, während die Tänzer «unentwegt prähistorisch tanzten».
Der scharfsinnigste Zeuge aber bleibt der französische Autor, Journalist und Essayist Jacques Rivière, der es unternahm, in der von ihm geleiteten Nouvelle Revue Française, einem Flagschiff ambitionierter Kultur jener Zeit, in einem kurzen, später in einem langen Essay die Aufführung zu beschreiben, die Arbeit des Komponisten wie des Choreografen, zu analysieren und zu deuten. Er geht auf das, was Kessler, «prähistorisch» nennt ein, auf die ganz neue, das Publikum provozierende Ästhetik, die etwas Primitives und Gewalttätiges hat, etwas Rohes und Wildes.
Abkehr von Klassizismus und Impressionismus
Die Tänzer stampfen und beben, führen eckige, ungraziöse Bewegungen aus, verdrehen die Köpfe. Rivière registriert die Abkehr des Komponisten wie des Choreografen von den Traditionen des Klassizistischen, des Impressionismus (den er illusionär nennt) und beschreibt den neuen, direkten Stil Strawinskys und Nijinskys als einen, der auf pure Expression aus ist und, wie er wiederholt sagt, ohne «Sauce» auskommt, ohne vom Inhalt ablenkende Verzierungen. Es ist, als ob Rivière ahnen würde, dass der brutale und revolutionäre Kunst-Akt, dem er beigewohnt hat, Vorbote sein würde einer radikalen Umwertung aller Werte, einer europäischen Katastrophe, die sich ja dann 1914 tatsächlich ereignet hat.
Das Glanzstück der Ausstellung im Migros-Museum ist das Video, in dem nach Erkenntnissen der Tanzhistorikerin Millicent Hodson und des Kunsthistorikers Kenneth Archer die Urfassung des «Sacre» so genau, so authentisch wie möglich rekonstruiert wird. Natürlich kann man, vor dem kleinen Bildschirm stehend und sich in die bewegten Bilder vertiefend, die Musik im Ohr, nicht mehr spontan reagieren auf die Nachbildung dieser 101 Jahre alten Tanz-Avantgarde. Beeindruckt ist man allemal von der Wucht der gestampften Rituale, vom Zusammenwirken von Musik und Choreografie, von Kraft und Energie der Tänzerinnen und Tänzer.