Ich war bei der ersten Pressekonferenz dabei, die die Putschisten abhielten. Sie sassen alle an einem langen Tisch Ghadhafi zu oberst. Wenn knifflige Fragen kamen, wandte er sich seinem Zweiten Mann zu, Oberst Jalloud, sie tuschelten miteinander, dann richtete Ghadhafi sich auf und gab seine Antwort. Nur in Sachen Ideologie, es war damals die herrschende grossarabische Nassers, war es sich ganz sicher.
Geweckt durch die »Stimme der Araber«
Ghadhafi war damals und für viele Jahre danach besessen von der Idee des panarabischen Nationalismus. Nasser war ihr Prophet, und die Generation Ghadhafis wurde oft "Generation von Saut al-Arab" genannnt - nach dem Sender aus Kairo, der Nassers Ideen verbreitete. Wie Tausende andere seiner Generation hatte Ghadhafi von dort die Idee eines grossen Arabischen Reiches bezogen, das die ganze arabische Welt umfassen sollte - unter Nassers Führung natürlich.
Den Putsch hatte er durchgeführt, um diese Idee zu verwirklichen. - Doch ihre Zeit war vorbei. Nasser hatte knappe zwei Jahre zuvor seine grosse Niederlage erlitten, im Sechstagekrieg gegen Israel. Die Israeli standen am Suezkanal, ganz Sinai war von ihnen besetzt. Nasser musste sich um Ägypten sorgen, die Arabische Welt war in weite Ferne gerückt. Der junge Revolutionsführer Ghadhafi aber wollte seine Idee nicht aufgeben. Er kam nach Ägypten, um den Zusammenschluss anzubieten. Nasser musste ihn hinhalten, ohne mit ihm zu brechen, denn die Gelder aus Libyen waren ihm wertvoll. Libyen, zuvor ein sehr armes Land, hatte acht Jahre vor dem Putsch begonnen, Erdöl zu exportieren.
Ghadhafi wollte die Idee der arabischen Einheit wiederbeleben. Er erklärte Libyen zu einem sozialistischen Land, weil Ägypten es damals war. Er kam immerwieder nach Kairo, um die "Einheit" zu fördern, manchmal auch als Privatmann, der in einem Hotel Quartier bezog. Die "Einheit" wollte er sofort verbal deklarieren, die Realiierung wurde auf später vertagt. Es gab damals viele Erklärungen von Zusammenschlüssen; Libyen mit Ägypten und dem Sudan Numairis, Libyen mit Ägypten und Syrien; Syrien und Ägypten. Auch nach der westlichen Seite: Libyen mit Tunesien, Algerien und Marokko; dann Libyen und Tunesien. Alle wurden mit Propagandagetöse erklärt. Aber dann gings nicht weiter. Der Grund war stets, dass offen geblieben war, wer den neuen vereinigten Staat regieren sollte. Wenn zwei sich zusammenschlossen, musste ein Staatschef weichen. - Aber welcher? Jedenfalls nicht Ghadhafi!
Zäher Kampf um die arabische Einheit
Als Nasser schon ein Jahr nach dem libyschen Coup, im Jahr 1970, unerwartet starb, sah Ghadhafi sich als Erben. Er versuchte nun Nassers Nachfolger, Sadat, zu einem Zusammenschluss zu überreden. Sadat ging 1971 darauf ein, in Worten, denn er brauchte das libysche Geld. Ein Referendum wurde abgehalten und natürlich bejaht. Ghadhafi soll Sadat damals vorgeschlagen haben: Du darfst Präsident des neuen Staates bleiben, zu dem auch Syrien gehören sollte, und ich werde oberster Armeekommandant. Sadat sagte ja, aber schob die Durchführung hinaus. Ghadhafi organisierte einen Grünen Marsch, Tausende von Libyern marschierten an die ägyptische Grenze, um durch ihre Grenzüberschreitung beide Länder physisch zu verbinden. Sadat liess den Marsch in der Wüste stoppen.
Ghaddafis eigene Revolution
Dies ging vier Jahre lang immer weiter. 1973 hatte Ghaddafi eine neue Idee. Er erklärte eine "Kulturrevolution" in Libyen. Dazu gehörten die Volkskomitees, die alles regieren sollten, aber natürlich im Sinne und nach den Anweisungen Ghadhafis. Revolution wurde das Leitwort. Weil die Staatenwelt, so wie sie war, Ghadhafi als führenden Partner nicht haben wollte, musste sie revolutionär umgestaltet werden. Libyen sollte zum revolutionären Vorbild werden, dem der Rest der Welt nachzuleben habe. Ghaddafi begann drei grüne Bücher zu schreiben. Die zur Bibel der Revolution werden sollten. Der Inhalt war, "die Massen sollten sich selbst regieren," stillschweigend gemeint war dabei: "natürlich so wie Ghadhafi es will". Aus der Kulturrevolution wurde vier Jahre später die Volksrevolution. Sein Land nannte er neu, die "Grosse Sozialistische Massenrepublik".
Revolutionsförderung weltweit
Die Revolution, die er Libyen verschrieben hatte, sollte auch die übrige Welt umfassen. Ghadhafi gab viele Jahre lang sehr viel Geld aus, um revolutionäre Gruppen und Grüppchen in aller Welt zu unterstützen. Blutvergiessen sah er als eine Notwendigkeit an. Er nahm, sich das recht heraus, libysche Oppositionelle im Ausland durch seine Agenten ermorden zu lassen. Revolutionen wollte er nun überall auslösen, in der Arabischen Welt, aber auch weiter entfernt, in Indonesien, in Irland, auf den Philippinen...
Er berauschte sich an seiner neuen Idee: in Libyen war die vorbildliche Revolution verwirklicht, nun sollte sie auch den Rest der Welt überrollen und umfassen. Er lebte sich ein in die Rolle des Revolutionsführers, der den wahren Weg kannte und immer recht hatte. Zwar hatten die arabischen Staaten ihn immerwieder abgelehnt und zurückgestellt, aber er hatte dennoch recht und er werde es ihnen zeigen. Weil die Revolutionierung in Libyen so leicht ging, er kommandierte und er verfügte über das Ölgeld, redete er sich, auch die übrige Welt sei revolutionierbar. In Libyen wurde dafür gesorgt, dass nur seine Ideen artikuliert werden konnten, alle anderen wurden untersagt. Gewalt, um dies zu erreichen, war in seinen Augen gerechtfertigt weil notwendig. Seine Geheimpolizei wuchs und wurde immer brutaler.
Die Rolle des Revolutionsführers
Als Revolutionsführer entwickelte Ghadhafi ein Talent für Selbstinszenierung. Seine Auftritte vor der Weltpresse waren legendär. Es gab ein Zeremoniell. Wenn Ghadhafi der Welt eine Mitteilung machen wollte, liess er die Weltpresse einladen. Korrespondenten aus aller Welt wurden eingeflogen. Sie kamen gerne, weil ohne Einladung Visa schwer zu erhalten waren. Die Auslandskorrespondenten wurden in einem Hotel auf Staatskosten untergebracht. Die erfahreneren Journalisten hatten dicke Bücher mitgebracht, die sie lesen wollten. Denn Ghaddafi liess auf sich warten. Die Pressebeauftragten kamen vom Informationsministerium. "Nur nicht weggehen", sagten sie," ER kann jederzeit kommen. Das wollen Sie doch nicht verpassen!". Das konnte Tage dauern. Vor dem Hotel standen Wachen. Der einzige Weg, sich zu entfernen, war zu behaupten, man habe mit seiner Botschaft Kontakt aufzunehmen. Dorthin durfte man ein Taxi nehmen. Von da aus, eventuell, weiter, wenn man es wagte.
Tagelang wurde die Erwartung aufrecht erhalten. Dann schliesslich ein Raunen: Autobusse fuhren vor, und der Journalistentrupp wurde eingeladen. Wohin? - Abwarten. Die Reise konnte in einem Prachtzelt enden, wo Ghadhafi seine Besucher empfing. Doch er hatte auch andere Ideen. Einmal war da eine hohe Mauer, ein Tor darin, davor stand ein Bulldozer, auf dem sass Ghaddafi. Er setzte die Maschine in Gang und stiess mit der grossen Schaufel das Tor ein. Dies ist ein Gefängnis, wurde den Journalisten erklärt. Es gibt nun in der Grossen Massenrepublik keine Gefängnisse mehr, alle Gefangenen werden frei gelassen. Ghadhafi befreit sie. - Für einige traf die wirklich zu, Doch wohl nur gewöhnliche Strafgefangene. Die politischen? Es gab keine, oder sollte doch jedenfalls keine geben, und sie konnten daher nicht frei gelassen werden. Der Auftritt war zu Ende. Wer Glück hatte, konnte später, nach Warten natürlich, vielleicht noch ein Sonderinterview erhalten, in dem Ghadhafi einmal mehr seine Ideen darlegte. Die Kleidung wurde immer einfallsreicher, exotischer. Sie war Teil seines Auftritts und seiner Selbststilisierung.
Politstar in Libyen
Die Libyer schauten zuerst voller Staunen auf ihren Revolutionsführer. So etwas war noch nie da gewesen. Sie sahen sich ins Zentrum der Weltaufmerksamkeit gerückt. Zuvor war ihr Land eine verlorene Ecke gewesen. Dass "die Revolution" viel Geld ausgab und vieles verschwendete, das eigentlich ihnen gehörte, wurde der Bevölkerung erst allmählich klar. Niemand durfte es auch nur flüstern, schon es zu denken, konnte gefährlich sein, denn Gedanken werden manchmal erraten. Dennoch, die Libyer schauten auf andere Erdölstaaten, etwa Kuwait: wieviel besser lebte man dort! Es waren die zweiten und dritten Generationen, die leise zu murren begannen. Das Murren wurde unüberhörbar, als das sozialistische Wirtschaftssystem, das Ghadhafi nach dem Grünen Buch einführen wollte, immer schlechter funktionierte. Die Läden standen leer. Es gab kaum mehr etwas zu kaufen.
Gleichzeitig führte Libyen Krieg im Tchad, von dem Libyen einen Grenzstreifen besetzte ("Aouzou Strip"). Dann kam es 1981 zum Zusammenstoss mit amerikanischen Kriegsschiffen in der Syrte, die Libyen als seine Hoheitsgewässer ansah, aber nicht die Amerikaner. Die Amerikaner schossen zwei libysche Flugzeuge ab.
Die revolutionären Aktivitäten des Landes im Ausland machten Ghadhafi in den Augen Präsident Reagans zum Erz-Terroristen. Nach einem Anschlag in einer Diskothek in Berlin, für die Libyen als verantwortlich erklärt wurde, liess Präsident Reagan 1986 Bengazi und Tripolis bombardieren. Ghadhafi selbst kam nur knapp mit dem Leben davon, weil er im Freien in einem Zelt übernachtete. Es gab 92 Todesopfer. Ghadhafi stellte ostdeutsche Sicherheitsberater ein. Er erklärte damals, nie hätte er gedacht, dass ein Präsident einem anderen etwas derartiges antun könne. Doch dass er sein Leben retten konnte, sah er als einen Sieg über Amerika an, der später in Denkmälern gefeiert wurde.
Korrektur des Staatssozialismus
Es kam einer der wenigen Momente, in dem Ghahafi die Aussenwelt wahrnehmen. Sein Überlebensinstinkt veranlasste ihn dazu. Die Staatswirtschaft funktionierte nicht. Es gab keine Waren mehr in den Läden. Der Missmut im Volk wuchs so stark an, dass er darauf reagieren musste. Er beendete 1988 das sozialistische Experiment und liess wieder freien Handel zu. Er liess sogar einige politische Gefangene frei.
Ein amerikanisches Verkehrsflugzeug mit 259 Passagieren stürzte Ende des gleichen Jahrs über Lockerbie in Schottland ab. Eine Bombe war an Bord hochgegangen. Iran wurde als der erste Verdächtige für den Anschlag genannt. Doch nach fast vier Jahren der Untersuchungen kam die CIA zu dem Schluss, die Verantwortung liege bei Libyen. 1992 verhängte die Uno einen Boykott. Er wirkte sich auf die libysche Luftfahrt und auf die Erdöproduktion aus. Langsam aber stetig ging die Produktion zurück, weil die amerikanische Technologie fehlte.
In Reaktion auf den Friedensprozess mit Israel, der 1993 begann und den die arabischen Staaten unterstützten, gab Ghadhafi seine arabische Politik auf. Er erklärte urplötzlich, alle Araber seien hoffnungslos, und er wandte sich Afrika zu. Sein Verhalten glich dem eines verschmähten Liebhabers. Seine arabischen Kollegen hatten ihn seit langer Zeit nicht mehr ernst genommen. In Afrika konnte er sich gewissermassen schadlos halten. Dank seines Geldes konnte er dort die Rolle eines umworbenen älteren Staatsmannes spielen. Er wurde später sogar zum König aller afrikanischen Könige erklärt.
Versöhnung mit den USA
Der amerikanische Boykott bewirkte schlussendlich, dass die Staatsausgaben Libyens das reduzierte Öleinkommen überstiegen, und dem Land drohte der Bankrott. Aus diesem Grund erklärte sich Libyen schliesslich bereit, zwei mutmassliche Agenten auszuliefern und vor ein schottisches Gericht zu bringen, die angeklagt wurden, die Bombe gelegt zu haben, die über Lockerbie explodierte. Einer der Angeschuldigten wurde verurteilt, der andere frei gesprochen. Die Beweise, die vorgebracht wurden, genügten den Richtern, doch sie erschienen nicht wirklich über alle Zweifel erhaben. Libyen zahlte 2,7 Milliarden an die Überlebenden der Opfer von Lockerbie und mehr Milliarden an andere Opfer von Anschlägen. Dafür wurden alle Boykottmassnahmen aufgehoben, und die westlichen Politiker besuchten Ghadhafi und warben um seine Freundschaft: des Erdöls wegen. Die Erdölgesellschaften erhielten neue Verträge. Wenn Libyen wirklich für den Anschlag verantwortlich war, musste Ghadhafi als der Hauptverantwortliche gelten. Doch das wurde übergangen. Sein mutmasslicher Geheimdienstmann und sein Geld genügten als Sühne. Libyen wurde wieder respektabel, und Ghadhafi "respektiert".
Die Erfahrung von Isolierung und Rehabilitation scheint seinen Zynismus gefestigt zu haben. Er sah sich umsomehr als den grossen, siegreichen Führer seiner Nation, und er sorgte umso genauer dafür, dass niemand diesem Selbstbild zu widersprechen wage. Wenn sogar das Ausland dem zustimmte, musste es doch so sein. Ein Hof von Schmeichlern umgab den Machthaber, und er war weniger als je in der Lage, über den Kreis der Lobhudeleien hinaus zu blicken. Er wollte es ja auch nicht. Seine acht Kinder spielten eine wachsende Rolle in der Politik. Sieben davon waren Söhne. Wie all seine Würdenträger spielte Ghadhafi sie gegeneinander aus. Sie und andere enge Vertraute erhielten Rollen zugewiesen, Armeekommandanten, Sicherheitschefs, Fürsprecher "des Volkes", Kontrolleur der Volkskongresse, und Ghadhafi unterstützte einmal dieses dann wieder ein anderes der Projekte, die ihm seine Söhne vorlegten. Die meisten dienten dazu, ihnen und ihren Anhängern Geld zu verschaffen.
Dass in der Zwischenzeit neue, etwas besser geschulte Generationen herangewachsen waren, die Ghadhafis Staat immer kritischer durchschauten und immer weniger eine Rolle für sich selbst in ihm finden konnten, weil alle Stellen besetzt waren und alle Würdenträger ihre eigenen Monopole und Privilegien verteidigten, sah Ghadhafi nicht, und seine Berater waren zu interessiert an dn bestehenden Verhältnissen, um es ihrerseits wahrzunehmen und Abhilfe schaffen zu wollen.