
Die Europäer sind perplex über Trumps ominöse Kehrtwende bei der Ukraine-Unterstützung. Doch Europa und die Ukraine sind damit Putins Aggression nicht hilflos ausgeliefert. Sie müssen sich vom Widerstandsgeist eines Churchill im Zweiten Weltkrieg inspirieren lassen. Putins militärische Macht wird überschätzt. Und Trumps Unberechenbarkeit in Washington hat ein Ablaufdatum.
Vor kurzem habe ich mir die Netflix-Serie «Churchill» angeschaut. Die vier Doku-Teile konzentrieren sich hauptsächlich auf die Leistung des legendären britischen Premiers im Kampf gegen Hitlers Reich im Zweiten Weltkrieg. Besonders eindrucksvoll sind seine Auftritte und Reden im Parlament nach Hitlers Bruch des Münchner Appeasement-Abkommens von 1938 und dem deutschen Einmarsch in Polen 1939. Als auch Frankreichs Streitkräfte unter Hitlers Blitzkrieg rasch zusammenbrachen, kämpfte Grossbritannien eine Zeitlang praktisch allein gegen das scheinbar übermächtige Dritte Reich. Churchill, der schon in den Jahren zuvor immer wieder vor Nachgiebigkeit gegenüber Hitler gewarnt hatte, gelang es mit demonstrativem Mut, politischem Geschick und mitreissendem rhetorischem Talent die verunsicherte Bevölkerung hinter sich zu scharen und zu zähem Widerstand zu animieren.
Trumps infame Lügen
Das Churchill-Beispiel könnte auch in diesen Tagen wieder als Inspiration dienen, nachdem der amerikanische Präsident Trump im Abwehrkampf der Ukraine gegen den russischen Aggressor Putin anscheinend die Seiten gewechselt hat und nun den ukrainischen Präsidenten Selenskyj als «Diktator» beschimpft. Damit lässt der neue Herr im Weissen Haus gleichzeitig auch die alten europäischen Nato-Partner im Regen stehen, die die Ukraine zusammen mit den USA in ihrem Existenzkampf gegen das Kreml-Imperium seit drei Jahren kräftig, wenn auch wohl nicht umfassend genug, unterstützen.
Mit der Verbreitung derart infamer Lügen und Beleidigungen gegen die heroisch kämpfende Ukraine und ihren unermüdlichen Präsidenten hatten wohl selbst die dezidiertesten Kritiker Trumps nicht gerechnet. Weniger überrascht hingegen der begeisterte Applaus der gewissenlosen Trump-Claqueure und Selenskyj-Hasser innerhalb und ausserhalb Amerikas.
Indessen ist nicht restlos auszuschliessen, dass Tumps bösartige Rhetorik gegen Selenskyj im Grunde nur dazu dienen soll, Putin nach dem Munde zu reden und ihn so für Verhandlungen über die Beendigung des Ukraine-Krieges zu gewinnen. Vertrauenerweckend wäre zwar eine solche Einschschmeicheltaktik gegenüber einem skrupellosen Diktator à la Putin keineswegs. Trump selber hatte zuvor andere Möglichkeiten angetönt: Nämlich die Ukraine viel stärker als zuvor mit moderner Waffentechnik zu beliefern, um so den russischen Aggressor zu Gesprächen über einen Waffenstillstand zu zwingen.
Europas Potential
Zumindest jene Europäer, die auch im Hinblick auf eigene Sicherheitsinteressen nicht lange abwarten können, um herauszufinden, was Trump eigentlich im Schilde führt, sollten sich ohne Verzug auf die Möglichkeit vorbereiten, die bedrängte Ukraine auch ohne verlässliche Hilfe seitens der Trump-Administration militärisch und politisch wirkungsvoll in ihrem Existenzkampf zu unterstützen. Denn entgegen den kleinmütigen Einschätzungen und Prognosen pessimistischer Auguren ist Europa als Ganzes keineswegs ein zahnloser Papiertiger und schon gar keine drittrangige Wirtschaftsmacht.
Die EU zählt zusammen mit Grossbritannien über ein Potential von über 500 Millionen Menschen, das sind gut drei Mal mehr als Russland mit seiner schrumpfenden Zahl von 145 Millionen Einwohnern. Frankreich und Grossbritannien besitzen eigene Atomwaffen. Zusammen mit der inzwischen kriegserprobten ukrainischen Armee verfügen die Europäer über ähnlich viele Soldaten wie Putins Russland. Die EU-Wirtschaftsleistung ist – ohne Grossbritannien – rund zehnmal höher als diejenige der Russischen Föderation.
Gewiss sind das nur sehr grobe Vergleiche. Doch sie können eine Ahnung davon geben, dass die Europäer, wenn sie sich ernsthaft zusammenraufen, sich auch dann nicht vor dem russischen Bären verkriechen müssten, wenn die USA sich militärisch ganz aus dem Alten Kontinent zurückziehen sollten (was schon aus amerikanischem Eigeninteresse eher unwahrscheinlich sein dürfte).
Überschätzte russische Streitkräfte
Ausserdem spricht einiges dafür, dass Putins Streitkräfte und deren Schlagkraft von manchen Kommentatoren deutlich überschätzt werden. In drei Jahren haben Russlands Armeen trotz ihrer numerischen Überlegenheit nur rund 20 Prozent des ukrainischen Territoriums erobern können. Putin hatte sich diesen Feldzug gegen das Nachbarland mit Sicherheit ganz anders vorgestellt, als er seine Kolonnen in den ersten Wochen nach dem Überfall direkt auf die ukrainische Hauptstadt Kiew marschieren liess.
Zunächst geht es ja bei den Andeutungen Trumps und seiner Regierungsleute über ein mögliches Ende der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine nicht um einen erweiterten russischen Angriffskrieg in Europa. Eine solche Entscheidung dürfte sich der Machthaber Putin gründlicher überlegen. Es geht konkret um die Frage, ob die Europäer – immer inklusive das Nicht-EU-Mitglied Grossbritannien – fähig wären, die Ukraine mit genügend Waffen und Ausrüstung zu beliefern, so dass diese ihren Abwehrkampf gegen den Aggressor zumindest so lange fortsetzen kann, bis Moskau zu einem akzeptablen Verhandlungsfrieden mit westlichen Sicherheitsgarantien bereit sein wird.
Völlig aussichtslos ist das wohl nicht. Der frühere russische Schachweltmeister Garry Kasparow, ein heller politischer Kopf, der Russland von innen besser kennt als die meisten Lehnstuhlstrategen, hat die Möglichkeit eines erfolgreich von den Europäern organisierten Wiederstandes gegen Putins Expansionsabsichten jedenfalls in einem Interview entschieden bejaht.
Wer übernimmt die Führung?
Welchen Politikern oder Politikerinnen aber könnte man es zutrauen, die Rolle eines modernen Churchill zu übernehmen und zumindest den grössten Teil der Europäer gemeinsam zu einer wirksamen Kraftanstrengung zur Rettung der Ukraine zu motivieren? Die Antwort fällt nicht leicht. Der französische Präsident Macron hat immerhin einen ersten Anlauf in diese Richtung unternommen. Nach der Bundestagswahl in Deutschland könnte ein neuer Bundeskanzler Friedrich Merz mit ihm gemeinsam am gleichen Strick ziehen. Der britische Premier Keir Starmer und der spanische Regierungschef Pedro Sanchez scheinen ebenso in diese Richtung zu denken. Auch die Skandinavier (besonders deutlich die dänische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen) und die Balten haben signalisiert, dass für sie ein verstärktes Engagement zugunsten der Ukraine möglich ist.
Ein europäischer Aufbruch mit Churchill-Format ist mit solchen Namen natürlich noch längst nicht gewährleistet. Doch wenn mehrere politische Führer und Führerinnen im Alten Kontinent ihre Kräfte bündeln und mit Elan, Tatkraft und Umsicht dafür eintreten, dass der drohende Verrat Trumps an Kiew wenigstens teilweise kompensiert werden kann, wird der Kampf um eine unabhängige Ukraine nicht verloren sein. Und anders als im Falle des Langzeitdiktators Putin hat die Herrschaft des unberechenbaren Machthabers im Weissen Haus ein fixes Ablaufdatum. Auch daraus lassen sich Hoffnungen schöpfen.