Eine Frau – Theodora Vischer, Kuratorin der Fondation Beyeler in Riehen – zeigt in einer Ausstellung Menschenbilder von neun Frauen: Berthe Morisot (1841–1895), Mary Cassatt (1844–1926), Paula Modersohn-Becker (1876–1907), Lotte Laserstein (1898–1993), Frida Kahlo (1907–1954), Alice Neel (1900–1984), Marlene Dumas (*1953), Cindy Sherman (*1954) und Elizabeth Peyton (*1965).
Die Ausstellung einer Frau über «Frauenkunst»? Das in alle Welt hinaus ausufernde Gender-Thema, das die Spalten der Feuilletons wohl weit mehr füllt, als den Lesern und auch Leserinnen lieb ist? Da ist ja kaum Neues beizusteuern. Theodora Vischer sagt und schreibt im Katalog: Nein. Künstlerinnen in der Kunst seien für sie nie ein Thema gewesen – und: Man hätte auch Künstler einbeziehen können. Sie nennt Degas, Sargent, Tillmans zum Beispiel. Nur: Sie tut es nicht.
Eine Ausstellung über die Geschichte des Porträts seit Beginn der Moderne, seit den 1880er-Jahren also, sei es auch nicht. «Close-Up», so der Titel der Schau, die jeder der neun Künstlerinnen einen eigenen weiten Raum gibt und bedeutende Werke dieser Malerinnen aus Museen in aller Welt in Riehen vereinigt, will beides nicht sein: nicht ein Beitrag zur «Frauenkunst»; das liesse sich erst recht als Ghettoisierung der Malerinnen interpretieren. «Close-Up» soll aber auch nicht eine Geschichte des Porträts erzählen, weil da zu viel an Wesentlichem fehlen würde.
Was denn aber sonst? Wohl beides zusammen und noch mehr dazu. Anregend ist «Close-Up» (in der Foto-Fachsprache bedeutet dies «Nahaufnahme», also Nähe zum Objekt) auf jeden Fall. Die neun Malerinnen sind Künstlerinnen von hohem Rang und geniessen internationales Ansehen. Die Qualität der Werke spricht fraglos für sich. Da lassen sich spannende Verbindungslinien ziehen, denn die neun Positionen ermöglichen gerade auch in ihrer Kombination abwägende Einblicke in die jüngere Kunstgeschichte.
Theodora Vischer stellt dem breiten Publikum Malerinnen vor, deren Werke die Fachleute natürlich kennen und die im Welt-Kunstmarkt ihre hohen Preise haben, die also keinerlei Entdeckungen sind. Doch ins Bewusstsein breiter Kreise Kunstinteressierter fanden sie kaum Eingang – mit Ausnahme vielleicht von Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo oder Cindy Sherman, auf deren Werke die Souvenir- und Nippes-Industrie längst zugegriffen hat. Doch wer – es sei denn, er gehöre zum Insider-Kreis – hat schon präzise Kenntnisse von Berthe Morisot, Mary Cassatt, Lotte Laserstein oder Alice Neel? Sie wurden in der Schweiz kaum je ausführlicher gezeigt.
«Close-Up» ist nicht doktrinär und darum auch nicht primär zielgerichtet. Die Ausstellung gibt den Besucherinnen und Besuchern nicht eine Theorie mit auf den Heimweg. Sie ist eher ein offener Essay, was den Besuch allerdings nicht einfacher macht. Er lässt uns eher nach Entwicklungslinien und nach der Bedeutung von Positionen fragen, als dass er Antworten serviert. Darin ist «Close-Up» vergleichbar mit Theodora Vischers Ausstellung «Resonating Spaces», die 2019/20 fünf Künstlerinnen auf die Beyeler-Räume reagieren liess.
Die neun Künstlerinnen setzen je auf ihre Art Akzente im Umgang mit dem Thema Porträt und Menschenbild. Die Werkgruppen von Berthe Morisot und Mary Cassatt zum Beispiel können unser Bild malender Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert von Klischees befreien, etwa von der Vorstellung, Frauen würden in der Kunstgeschichte fehlen. Beide Malerinnen sind mit dem Pariser Impressionismus nicht nur über ihre Kunst, sondern auch über ihren Alltag eng und prominent verbunden. Berthe Morisot war oft Edouard Manets Modell, zum Beispiel im berühmten Bild «Le Balcon». Sie war überdies mit Manets Bruder Eugène verheiratet.
Auch die Amerikanerin Mary Cassatt, seit 1865 mit Unterbrüchen in Paris, pflegte Freundschaften mit Impressionisten, mit Edgard Degas vor allem. Beide Malerinnen beteiligten sich an Salons, beide fanden öffentliche Anerkennung und beide waren am Markt erfolgreich. Beide, Morisot mehr als Cassatt, widmeten sich vor allem der weiblichen Figur und dabei der Intimität im Interieur.
Das Bild der Frau ist dabei meist ein anderes als jenes ihrer Malerkollegen. Es gibt auch Boudoir- und Toiletten-Bilder, doch sie sind dezent und einfühlsam. Sie wahren Distanz, ohne auf die Sinnlichkeit von Kontur und Kolorit zu verzichten. Auch die Unmittelbarkeit des wachen Blicks der jungen Frauen aus gutbürgerlicher Gesellschaft spielt eine bedeutende Rolle.
Das kurze Künstlerinnen-Dasein der rund eine Generation jüngeren Norddeutschen Paula Modersohn-Becker ist geprägt von der Sehnsucht nach Paris als Weltmetropole der Kunst. Das Menschenbild ist zentral in ihrem Werk, dabei aber nicht die Ähnlichkeit des Bildes mit dem abgebildeten Individuum. Das gilt auch von der grossen Zahl der Selbstporträts. Modersohn-Becker begründete diese Bildgattung, nachdem sich ein Modell über die mangelnde Ähnlichkeit beklagte, mit folgenden Worten: „Seitdem zeichne ich mein teures Spiegelbild, und das ist wenigstens tolerant.“
Beispiel sei hier ein 1900 entstandenes Selbstporträt der 24Jährigen: Sie zeigt sich vor einem Fenster im Gegenlicht. Das in Untersicht gezeigte Gesicht ist so stark verschattet, dass sich seine Züge kaum genau erfassen lassen. Offensichtlich geht es auch nicht, wie bei Morisot und Cassatt, um Atmosphäre, wohl aber ein eigengesetzliches bildnerisches Konzept – und damit um die Vorwegnahme einer Bildautonomie, mit der sich die Malerei erst später im Zuge der Abstraktion ihre Freiräume schafft.
Ist hier das Selbstporträt Anlass zu autonomer Malerei, so setzt die gut zwanzig Jahre jüngere Lotte Laserstein die stupende Sinnlichkeit ihrer malerischen Qualität ein, um sich als Künstlerin und Neue Frau der 20er-Jahre im gesellschaftlichen und künstlerischen Kontext einzubetten. In «In meinem Atelier» zeigt sie sich mit konzentriertem Ernst bei der Arbeit am Bild des sich im Sonnenlicht auf dem Bett präsentierenden Modells. Das Fenster gibt den Blick frei auf die Berliner Stadtlandschaft. Das Bild lässt sich – über alle rein künstlerischen Reize hinaus – auch als politisches Statement deuten.
Anders «Ich und mein Modell» (Bild ganz oben): Wieder ist Laserstein mit Malen beschäftigt, wieder blickt sie konzentriert in den Spiegel. Das Modell tritt aber von hinten auf die Malerin zu und legt sanft die Hand auf ihre Schulter. Statt einer «Weltbühne» schildert Lotte Laserstein die Intimität trauten Zusammenseins. Sie zieht sich aufs Private zurück – oder gibt, umgekehrt, dem Privaten behutsam Öffentlichkeit.
Statt Behutsamkeit Drastik und Verzicht auf jede Distanz: Die fast gleichaltrige Amerikanerin Alice Neel malt mehr als vierzig Jahre später ihre nackte schwangere Schwiegertochter. Sie liegt auf der Seite, der Bauch wölbt sich beinahe bedrohlich. Ernst blicken ihre grossen Augen auf die Malerin. Der männliche Kopf hinter der Frau: Das ist Neels Sohn. Mehr Privatheit, mehr Nähe scheint nicht möglich. Streckt die Malerin den Arm aus, berührt sie die zartrosa Haut der Schwangeren.
Ein Tabu? Bilder nackter Schwangerer sind in der Kunstgeschichte kaum zu finden. (Seltene Ausnahme: eine Zeichnung Egon Schieles.) Alice Neel schuf gleich mehrere. Vor allem ihr Spätwerk lebt von der erschreckenden Direktheit der künstlerischen Sprache. Dazu fügt sich, dass sich Neel jeder Anpassung an (amerikanische) Zeitstile wie Informel und abstrakten Expressionismus verschliesst. Ihr Weg duldet keine Kompromisse.
Rund sechzig Jahre nach Alice Neel wird Elizabeth Peyton geboren. Ihre kleinformatigen Werke entsprechen am ehesten dem, was man sich gemeinhin unter Porträt vorstellt: dem erkennbaren Abbild einer realen Person. Peyton malt meist Menschen aus ihrem Bekannten- und Freundeskreis oder aber Frauen und Männer, die für sie als Künstlerin eine wichtige Rolle spielen. Camille Claudel ist ein Beispiel, gemalt nach einer Fotografie, welche die arbeitende Künstlerin zeigt, ein anderes Isa Genzken, gemalt im Jahr 2010 nach einer fotografischen Aufnahme aus dem Jahr 1980, wieder ein anderes Greta Thunberg.
Als Statements sind ihre Porträts von unmissverständlichem Zeitbezug. Peyton wählt dazu aber ihre eigene Darstellungsweise, ohne – darin Alice Neel vergleichbar – auf Angesagtes zu achten. Ihr Raum ist das Panorama ihres persönlichen und mentalen Beziehungsnetzes.
Weitere Räume nehmen prominente Werkgruppen von Frida Kahlo, Marlene Dumas und Cindy Sherman auf. Ein Epilog erinnert an die Russin Marie Bashkirtseff (1858–1884). Die 25-Jährige zeigt sich in einem Selbstporträt als Malerin. Ihr Grossformat «L’Academie Julian» (1881) schildert eine Akademieszene: Zahlreiche Frauen üben sich in der Darstellung eines schwarzgelockten Hirtenknaben, der auf einem Podium posiert. Vom offiziellen Akademiebetrieb sind sie ausgeschlossen. Sie haben im privaten Rahmen unter sich zu bleiben.
Insgesamt bietet die Fondation Beyeler in «Close-Up» neun schön präsentierte Einzelausstellungen bedeutender Künstlerinnen vom Ende des 19. bis ins beginnende 21. Jahrhundert. Neben diesen Einzelbegegnungen ermöglicht die Ausstellung aber auch, Verbindungsachsen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden nachzuspüren. Das erfordert Zeit und eigenes Nachdenken – vielleicht trotz allem auch über die Kunst von Frauen und die Geschichte des Porträts. Die Entschädigung für die Anstrengung, wenn es denn, übers Schauvergnügen hinaus, eine ist: die Freiheit der eigenen Entdeckung.
Fondation Beyeler, Riehen bei Basel, bis 2. Januar 2022
kuratiert von Theodora Vischer
Katalog 58 Franken