Als Angehörige einer Gemeinsamen Militärkommission hatten sie seit längerem Massnahmen für eine Entflechtung der Truppen vor der mittellibyschen Stadt Syrte, dem südlich gelegenen Luftwaffenstützpunkt al-Jufra und an anderen lokalen Fronten sowie für einen Rückzug ausländischer Söldnerverbände aus der unmittelbaren Nähe der Front erarbeitet. Ergebnis war bislang ein inoffizieller Waffenstillstand, der seit Juli 2020 Bestand hatte.
Seit vergangenem Montag stand nun die Aushandlung eines verbindlichen Waffenstillstands auf dem Programm der Militärkommission. Unter den Auspizien der von Stephanie Williams geleiteten Libyen-Mission der Vereinten Nationen wurde ein Abkommen ausgehandelt, in dem auf drei Seiten in zwölf Klauseln die Bestimmungen für einen «permanenten Waffenstillstand» festgeschrieben wurden.
Der Waffenstillstand
Beide Seiten traten anschliessend zu einem gemeinsamen Fototermin vor die Presse und hinterliessen den Eindruck, dass sich die libysche Regierung in Tripolitanien unter Premier Fāyiz al-Sarrāj und die ostlibysche Regierung des Repräsentantenhauses, die faktisch der sogenannten Libyschen Nationalarmee (LNA) von Khalīfa Haftar untersteht, erstmals gegenseitig als Verhandlungspartner anerkannten. Das «vollständige und nachhaltige Waffenstillstandsabkommen in Libyen zwischen der libyschen Armee und der libyschen Nationalarmee des Generalkommandos der Streitkräfte» bestimmt in zwölf Artikeln die praktischen Massnahmen, die in Folge des Waffenstillstands möglich werden sollen.
Dazu gehören unter anderem der Rückzug ausländischer Söldnerverbände binnen dreier Monate, der Rückzug beider Seiten von der Frontlinie, der Aufbau einer gemeinsamen Polizei, die die Sicherung der geräumten Gebiete übernehmen soll, und die Auflistung aller Milizen und Kampfparteien in einem gemeinsamen Register, das als Grundlage für ihre Integration in die Armeen oder ihre Demobilisierung bilden soll. Bedeutend ist auch die Vereinbarung über eine Deeskalation in den Medien. So heisst es im Vertrag: «Die Medieneskalation und die Hassreden, die derzeit via audiovisueller Propagandakanäle und Websites verbreitet werden, sind zu stoppen, und von den Justizbehörden und den zuständigen Behörden wird verlangt, die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, um eine ernsthafte und abschreckende Verfolgung dieser Kanäle und ihrer Webseiten sicherzustellen.» Darüber hinaus sollen Verbindungsstrassen zwischen beiden Hoheitsgebieten geöffnet sowie der Flug- und Schiffsverkehr wieder ermöglicht werden.
Zudem hat sich die Militärkommission darauf verständigt, die machtvollen Petroleum Facilities Guard im Westen und im Osten des Landes, die bislang der LNA nahestanden, zu neutralisieren und ihre Kommandeure zu beauftragen, mit Vertretern der National Oil Corporation in Tripolis einen Vorschlag zur Umstrukturierung und Organisation der Facility Guard auszuarbeiten. Dies erlaubt die sofortige Wiederaufnahme der Erdölförderung und die Verschiffung des Erdöls in den Häfen in Ostlibyen.
Zwang zum Waffenstillstand
Das starke Anwachsen der Zahl von Infektionen mit dem Coronavirus in Libyen setzte die politischen Repräsentanten der Kriegsparteien unter Zugzwang. Anders als in Ägypten, wo die Infektionszahlen seit Juli deutlich zurückgegangen waren, verfünffachte sich die tägliche Zahl der Ansteckungen in Libyen. Zwar ist die wöchentliche Inzidenz noch niedriger als in Westeuropa, doch befürchten libysche Behörden, dass ohne zwischen beiden Regierungen koordinierte gesundheitspolitische Massnahmen die Lage ausser Kontrolle geraten könnte.
Das Abkommen macht deutlich, dass aufgrund der seit Juli 2020 bestehenden militärischen Pattsituation beide Kriegsparteien zur Einsicht gelangt sind, dass eine Fortsetzung des Kriegs nur die weitere Fragmentierung ihrer Streitkräfte und damit die Ruinierung der eigenen Macht zur Folge hätte. Eine Wiederaufnahme der Kampfhandlungen hätte zudem die Gefahr hervorgerufen, dass aus dem kalten Proxy-Krieg zwischen den stützenden Mächten Türkei auf der einen und Russland und Ägypten auf der anderen Seite ein heisser Konflikt geworden wäre und dass damit die Interessen der lokalen Kriegsparteien überrollt würden.
Das Beharren auf eine Einheit des Landes
Das Abkommen hält an der «Einheit der libyschen Gebiete und des Schutzes ihrer Grenzen zu Lande, zu Wasser und in der Luft» fest und vereinbart, dass Politik und Ressourcen des Landes keiner «fremden Macht» unterstellt werden. Nach aussen hin wird damit der Eindruck erweckt, dass der Fortbestand des Staats «Libyen» unbestritten sei und dass der Krieg vor allem ein Krieg um die legitime Herrschaft in diesem Staat war beziehungsweise noch sei.
Die Tatsache aber, dass überhaupt beide Parteien sich als gleichberechtigte Vertragspartner anerkannten, weist in eine ganz andere Richtung. Das Abkommen bestätigt zunächst die Teilung der Souveränität über das Land und das Staatsgebiet. Kritiker des Abkommens in Tripolis wie die Milizen der «Revolutionäre von Tripolis» argwöhnen daher, dass die Regierung der nationalen Eintracht in Tripolis die Militärherrschaft Haftars im Osten des Landes (Barqa) faktisch gebilligt habe.
Am vergangenen Donnerstag hatten sie den im September 2020 neu ernannten Leiter des Informationsbüros der Regierung in Tripolis, Muhammad Baʿayū, entführt. Baʿayū hatte dafür Sorge tragen wollen, dass jede islamistische Propaganda aus den amtlichen beziehungsweise halbamtlichen Medien verschwindet und auch die martialische Polemik gegen Khalīfa Haftar eingestellt wird. Haftar, so ein altes Versprechen der Regierung von al-Sarrāj, sollte auf jeden Fall in Benghazi vor Gericht gestellt und hingerichtet werden. Diese Forderung hatte durch das Auffinden von Massengräbern in Tarhūna, in denen Haftars Milizen ihre Opfer verscharrt hatten, noch Nahrung bekommen. Hier dürfte es der Regierung schwerfallen, in Tripolitanien einen Frieden ohne eine Form von juristischer Aufbereitung durchzusetzen.
Haftar seinerseits hat sich bislang mit Stellungnahmen zurückgehalten. Für beide Seiten wird es schwierig sein, in ihren Machtgebieten hinreichend Unterstützung für diesen Waffenstillstand und die anstehende Machtteilung zu finden. Noch überwiegen in den Medien jene Nachrichten, die auf einer Verteufelung des Gegners beruhen. Ungeschickte Äusserungen wie die von Haftars Sprecher al-Mismārī sind wenig hilfreich. So soll er jüngst verkündet haben, dass die Söldner der russischen Wagner-Truppen die libysche Staatsangehörigkeit erhalten sollten und daher nicht das Land verlassen müssten. Vertrauensbildende Massnahmen, die das Abkommen einfordert, sehen anders aus.
Machtteilung als Teilung des Landes
Selbst wenn die Europäer und auch die UN die Wahrung der nationalen Einheit fordern, so haben die Libyer wohl eingesehen, dass diese Forderung den Krieg nur perpetuieren würde. Erst das vorsichtige Abrücken von dieser Maximalposition hat einen Kompromiss ermöglicht, die auf der politischen Anerkennung des Gegners als Vertragspartner beruht. Damit wird politisch nur das nachgeholt, was sich auf sozialer und kultureller Ebene in Libyen schon längst vollzogen hat, nämlich die Auflösung der durch den italienischen Kolonialismus konstruierten Einheit Libyens.
Umstritten ist weniger die Aufteilung des Landes selbst. Die internen Grenzen sind schon abgesteckt und decken sich zum Teil mit sehr alten sozialen und kulturellen Bruchlinien. So ist es kein Zufall, dass die Offensive der Tripolitaner genau vor der Stadt Syrte haltmachte und dass der ägyptische Präsident diese Position als eine Rote Linie definiert hatte, die die Tripolitaner nicht überschreiten dürften. Diese Linie entspricht seit jeher der Ostgrenze Tripolitaniens. Umstritten ist die Verteilung der ungleich verteilten Ressourcen im Land. Gewiss, auch in Tripolitanien, besonders im südlich angrenzenden Fezzān-Gebiet, gibt es reichhaltige Erdöl- und Erdgaslagerstätten, doch der eigentliche Ressourcenreichtum findet sich in der Region von Ajdabīya im Osten des Landes, just in der Region, aus der Haftar stammt und wo er seine Hausmacht hat.
Waffenstillstand als militärische Konfliktlösung
Der Waffenstillstand ist so zunächst eine militärische Lösung des Konflikts. Die politische Lösung, die auf einem Interessensausgleich und damit auf einem Lasten- und Ertragsausgleich beruht, lässt auf sich warten. Immerhin scheinen sich beide Seiten darauf geeinigt zu haben, dass als flankierende Massnahme zur Absicherung des Waffenstillstands auch der Abbau von Feindbildern und der entsprechenden Propaganda gehört. Mit der Wiedereröffnung der Kommunikationswege wird zudem der Warenaustausch gefördert, der die Wiederbelebung oder Neugestaltung von Geschäftsbeziehungen ermöglichen wird.
Die eigentliche Erbteilung in Libyen steht so noch aus, ist aber kaum noch zu verhindern. Aus der Sicht der kriegsmüden Bevölkerung ist sie aber zwingend. Nur durch die Teilung lässt sich, so manche Kommentatoren in Libyen selbst, eine neue Partnerschaft zwischen der Bevölkerung beider Länder stiften.
Unklar ist, wie es mit den südlichen Gebieten weitergehen wird. Im Fezzāner Becken von Murzuq befinden sich zwar auch grössere Förderstätten von Erdöl und Erdgas, doch werden diese weiter von Milizen der LNA kontrolliert. Dieses Erbe aus dem Nachlass des Gaddafi-Regimes ist begehrt und daher umstritten. Lokale Gemeinden ziehen aus der Förderung bislang nur wenig Profit und Nutzen. Daher melden sich hier auch mehr und mehr Menschen zu Wort, die für die Sezession auch von Fezzān werben. Ein Frieden zwischen West und Ost bedeutet also noch lange nicht einen Frieden im ganzen Land. Diese vergessenen Regionen werden nicht zufällig mehr und mehr zu Nischen ultraislamistischer Bünde, die ihren Terror in die angrenzenden Gebiete hineintragen. Eine politische Lösung für den Süden ist so auch eine Bedingung für eine erfolgreiche Erbteilung, die diesen langjährigen, verheerenden Krieg beenden könnte.
Die Erbteilung
Der sechsjährige Krieg um das Erbe des Gaddafi-Regimes wird wohl zu einer Erbteilung führen. Alle anderen Modelle der Versöhnung sind eher utopisch. Während die politischen Strukturen in Tripolitanien durch die unterschiedlichen republikanischen Traditionen der Küstenstädte eine weitergehende Dezentralisierung erwarten lassen, ist die Herrschaftsordnung in einem zukünftigen Ostlibyen (Barqa) noch undeutlich konturiert. Ein Wiederaufleben der monarchischen Traditionen, die hier seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Sanūsī-Dynastie dominierten, ist nicht ausgeschlossen. Haftars Anspruch auf Alleinherrschaft deutet darauf hin, auch wenn er sich eher als libyscher Nasser feiern lässt.
Allerdings formiert sich auch jetzt schon in Benghazi und anderen Städten des Ostens eine Opposition gegen Haftars Herrschaft, die sogar bis in die Reihen des Repräsentantenhauses in Tobruq reicht. Der Vorsitzende des Repräsentantenhauses, ʿAqīla Sālih (Aguila Saleh), distanzierte sich in den vergangenen Wochen immer deutlicher von Haftar. Manche behaupten, der aus der Gegend des ostlibyschen Derna stammende Jurist Saleh sehe in der Versöhnung mit Tripolitanien gar die Chance, Präsident eines vereinigten Libyens zu werden. Doch so weit wird es wohl kaum kommen. Eher ist anzunehmen, dass die Kommunen und Städte in Ostlibyen einen Frieden mit dem Westen nutzen werden, um der Militärherrschaft Haftars, die bislang ausschliesslich von Gaddafis Erbe lebte, ein Ende zu bereiten.
Doch ist es nicht auszuschliessen, dass der im Waffenstillstandsabkommen explizit formulierte Optimismus nur ein Intermezzo im libyschen Erbfolgekrieg ist und dass nach einer Atempause die Kampfhandlungen weitergehen werden. Die Verheerungen, die Libyen dann erleben müsste, würden all das, was die Bevölkerung bislang an Leid ertragen musste, in den Schatten stellen.