Das Gebäude des indischen Obersten Gerichts ist in keinem Delhi-Reiseführer verzeichnet. Es liegt zwar ebenfalls in der Nähe des ‚Rajpath‘ – der Königsallee – der Hauptstadt, aber es sind die Bauten am oberen Ende der Allee, die als Sehenswürdigkeiten geltenErwähnung verdienen: der prächtige Präsidentenpalast, Erinnerung an koloniale Vergangenheit wie an deren Überwindung; die imposanten Verwaltungsgebäude des ‚North Block‘ und ‚South Block‘; und davor die Kolonnaden um den Rundbau des Parlaments.
Wie ein Jahrmarkt
Doch das eigentliche Symbol der indischen Demokratie befindet sich heutzutage am anderen Ende der grossen Avenue. Seitdem das Parlament zum Spielplatz von Politiker-Karrieren verkommen ist (darunter vielen Abgeordneten im Vorstrafen-Register) und regelmässig Schauplatz von Saalschlachten ist, sind es das Oberste Gericht und die Obergerichte der Bundesstaaten, die den Glauben vieler Bürger an ihre Demokratie wachhalten. Sie zeigen es mit ihren Fussabdrücken. Stringente Sicherheitskontrollen haben die Publikumsgalerien der beiden Parlamentskammern geleert, und die lähmenden Filibuster der Abgeordneten tun ein Übriges. Beim Zutritt zum Gelände des Gerichtsgebäudes dagegen sind die Polizeikontrollen stochastisch, und Ausweise sind nicht vonnöten.
Ich fuhr vor einigen Wochen zufällig dort vorbei. Es war ein gerichtsfreier Tag und so konnte ich nur durchs Gitter in das leere Oval vor dem schmalen Kuppelbau schauen. Das eigene ‚Post Office‘ war immer noch da, ebenso die Bankfiliale, nur die motorisierten Dreirad-Rikschas mit der stolzen Aufschrift ‚Supreme Court of India‘ fehlten. Ich erinnerte mich an frühere Besuche, als das weite Rund übersät war mit schwarzen Anwaltskitteln und –saris, mit Bittstellern, Klägern, Zeugen, Sachverständigen. Während unsere Verfassungsgerichte abseits der breiten Öffentlichkeit von ihrem Elfenbeinturm herab ihre Verdikte schleudern, gleicht Indiens oberste Justizinstanz einem Jahrmarkt.
Willkür der Polizei
Natürlich sind die 25 Richter auch hier vollkommen abgeschirmt, mit eigenen Eingängen, Lifts und Restaurant. Wie aus dem Nichts erscheinen sie am Morgen, wenn sich die Tür hinter einer der sechs Gerichtsbühnen öffnet und der Richter (es gibt nur zwei ‚Richterinnern‘) seinen hohen Sitz einnimmt. Der Gerichtstag beginnt mit dem ‚Mentioning‘. Parteivertreter drängen an die Balustrade, und der betreffende Richter verliest die Reihenfolge der Anhörungen, Anwälte um eine Verschiebung oder einen Termin. Darauf überreichen sie den ‚Law Clerks‘ die Liste der Gesetze und Urteile, die sie in ihren Plädoyers zitieren wollen. Und rasch werden die entsprechenden Folianten auf dem Richterpult aufgetürmt.
Das Oberste Gericht ist Verfassungsgericht und letzte Berufungsinstanz für alle Urteile der 26 Obergerichte. Es ist aber auch erste Instanz für Tausende von ‚Public Interest Litigations‘. PILs sind Petitionen, mit denen ein Bürger, notfalls mit einer simplen Postkarte, das Gericht anrufen kann. Sie sind für arme Menschen gedacht, die weder das Geld für einen Anwalt haben noch die Prozeduren kennen, um sich Recht zu verschaffen. Viele der zugelassenen PILs betreffen Willkür der Polizei, die sich weigert, eine Klage entgegenzunehmen, weil sie gegen eine korrupten Politiker gerichtet ist, oder gegen einen gewalttätigen Ehemann, die Diskriminierung eines Kastenlosen bei der Wahl zum Dorflehrer, eine militärische Beförderung dank verwandtschaftlichen Beziehungen.
Wachsame Zeitungen
Indiens Oberstes Gericht ist kein Olymp der Rechtsgelehrten, sondern des Landes grösste Reinigungsanstalt. Viel schmutzige Wäsche wird hier gewaschen und öffentlich aufgehängt. Und meistens ist es der Staat – die imposanten Institutionen am anderen Ende der Königsallee –, der auf der Angeklagebank sitzt. In der Woche, in der ich vor dem Gerichtsgebäude stand, hatte das Gericht 122 Spektrum-Lizenzen von Telecomfirmen annulliert, weil der Fernmeldeminister (er sitzt seit einem Jahr in U-Haft) bei der Zuteilung Einige begünstigt hatte. In einer anderen Kammer fragten die Richter den Staatsanwalt über die erotischen Tempel von Khajuraho aus: Ob diese denn die damaligen sexuellen Praktiken abbildeten, oder ob es Abweichungen von den gesellschaftlichen Normen waren. Es ging um die Anfechtung eines Urteils des Obergerichts von Delhi, das befunden hatte, Paragraph 377 (er kriminalisiert homosexuelle Akte) gehöre abgeschafft.
Die Demokratie ermöglicht dieses öffentliche Scherbengericht, aber sie ist ein unwirksamer Schutz gegen Machtmissbrauch. Angesichts eines durch und durch korrupten Staats bleibt die Justiz für Viele die einzige Instanz, die ihre Hoffnung für einen demokratischen Rechtsstaat noch wachhält. Dies zeigt sich auch an der grossen Aufmerksamkeit, die die Medien Gerichtsurteilen und –verfahren einräumen. Kein Tag vergeht, an dem die Zeitungen nicht über laufende Gerichtsfälle berichten.
Rückwirkende Gesetzesänderung
Ich machte an einem beliebigen Tag die Probe aufs Exempel. Im ‚Indian Express‘ fand ich am 10.April nicht weniger als zwanzig Artikel, die sich auf Gerichtsfälle bezogen. Sechs davon handelten vom ‚Supreme Court‘: Ein pakistanischer Wissenschafter, der seit elf Jahren auf ein Urteil in einem Mordfall wartet, wird gegen Kaution freigesetzt; ein Bollywood-Regisseur darf wegen angeblicher Vergewaltigung einer Schauspielerin (noch) nicht vor Gericht gebracht werden; ein PIL wurde angenommen, das eine Untersuchung gegen den nächsten Armee-Kommandanten fordert, wegen angeblicher Mitschuld an der Erschiessung von Zivilisten in Kaschmir. Und im aufsehenerregenden Vodafone-Fall wurden vor dem Gericht die Stellungnahmen von internationalen Firmen verlesen, denen alte Steuerforderungen drohen. Zwei weitere betrafen das Bhopal-Desaster vor 28 Jahren und den Telecom-Skandal.
Kann die Justiz eine derartige Flut von Klagen und Rekursen noch verarbeiten? Sie kann es nicht. über 25 Millionen Fälle sind vor indischen Gerichten hängig – siehe Bhopal. Die Gefängnisse sind überfüllt mit Untersuchungshäftlingen; ein Grossteil von ihnen ist schon länger in Gewahrsam als das potentielle Strafhöchstmass. Das alte Sprichwort – ‚Justice delayed is Justice denied‘ – bewahrheitet sich hier mit dramatischer Schärfe. Und je grösser die Macht der Gerichte, desto grösser ist das Risiko ihres Missbrauchs. Zwar sind die höheren Instanzern immer noch relativ frei von Korruption und Gefälligkeitsurteilen; aber je tiefer man in der Justiz-Hierarchie geht, desto grösser wird die Bestechlichkeit. Und vor zwei Jahren kam zum ersten Mal der damalige ‚Chief Justice of India‘ ins Gerede, weil seine Verwandten aufgrund dieser Beziehung zu lukrativen Posten gekommen waren.
Es sind die Politiker, die solche Praktiken unter die Medien streuen, weil sie die häufigsten Zielscheibe der Richter darstellen. Und wenn immer möglich schlagen Regierung und Parlament zurück. Der laufende Vodafone-Streit zeigt dies drastisch. Das Steueramt hatte eine nachträgliche Forderung von 2.2 Milliarden Dollar aus dem Verkauf der Firma Hutchinson-Essar an Vodafone erhoben. Doch die Transaktion war vor sechs Jahren zwischen einer holländischen Vodafone-Tochter und einer in den Cayman-Inseln registrierten Hutchinson-Holding erfolgt. Das Oberste Gericht befand, es gebe keine Rechtsgrundlage, dieses internationale Geschäft zu besteuern, und erst recht nicht sechs Jahre später. Worauf die Regierung kurzerhand beschloss, das Gesetz zu ändern – mit rückwirkender Geltung, und dies gleich fünfzig Jahre.