Aber es gibt noch weitere Spiegelungen und Brechungen. Malala wirkt beinahe wie eine Kinderarbeiterin gegenüber dem bärtigen Gesicht des sechzigjährigen Kämpfers für Kinderrechte. Und er ist ein Mann, während Malala schon heute, noch bevor sie legal eine (erwachsene) Frau ist, eine Ikone der Frauenbewegung geworden ist.
Mit der Koppelung der beiden Personen fordert das Nobel-Komitee noch einen weiteren Vergleich heraus: Während Satyarthi quasi für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird, steht Malala erst am Anfang ihres Lebens und ihrer Tätigkeit. Dies wurde auf eine lustige Art deutlich, als sie in ihrer ersten Reaktion auf die Auszeichnung bemerkte, dass sie für die Neuigkeit aus dem Schulunterrichts geholt wurde; danach sei sie wieder auf die Schulbank zurückgekehrt. Preis oder kein Preis – die Examen würden damit nicht leichter werden.
Der kaum bekannte ältere Mann
Satyarthi dagegen wählte den häufigen Umweg eines älteren Menschen, der auf eine tiefberührende Neuigkeit nach Worten sucht. Er erzählte eine Geschichte aus seiner Kindheit: Wie er als fünfjähriger Bub am ersten Schultag an einem andern Kind vor der Schulpforte vorbeikam, das nicht hinein durfte, weil es bereits einer Arbeit nachging. Schon damals, sagte er, habe es ihn beschäftigt, dass andere Kinder nicht in eine Welt treten durften, in der sie von ihrer Zukunft träumen konnten.
Es ist eine weitere Ironie dieser Zweierwahl, dass der ältere Mann, mit seinem Leistungsausweis – Tausende von Kindern, die er aus Kinderarbeit und Schuldsklaverei befreit hat – dem breiten Publikum in- und ausserhalb Indiens kaum bekannt ist. Die minderjährige Malala dagegen ist weltberühmt, ist bereits in der UNO aufgetreten, wurde von Angelina Jolie unter die Fittiche genommen, erschien auf einem TIME-Cover.
Zur Razzia eingeladen
Das hat natürlich damit zu tun, dass Helden aus verschiedenem Holz geschnitzt sein können. Bei Kailash Satyarthi ist es ein 35-jähriger Kampf gewesen. Ich erinnere mich, wie er in Delhi zu Pressekonferenzen eingeladen hatte, wenn er wiederum eine Schar Kinder aus der Knechtschaft befreit hatte, oder wenn er in aller Öffentlichkeit eine weitere Kampagne ankündigte. Manchmal lud er ausdrücklich uns Korrespondenten ausländischer Zeitungen ein, bei einer seiner ‚Razzien’ dabeizusein. Denn allzu oft standen hinter unmenschlichen Arbeitspraktiken eine honorigr internationale Handelskette, die ihre billigen Teppiche, Knallkörper oder Glasschmuck nur dank Kinderhänden so billig in unsere Warenhäuser schwemmen konnte.
Malala hat nichts dergleichen vorzuweisen. Und dennoch hat sie den Preis verdient; sie wurde gar schon vor einem Jahr als Anwärterin erwähnt. Es war die Feuertaufe eines Augenblicks, die sie zur Heldin machte. Der Augenblick, als der Talib in den Schulbus hineinschrie ‚Wer ist Malala?’ und sie sich nicht duckte. Die Antwort ‚Ich bin Malala!’ kam dann in Form (und im Titel) eines Buchs. Es war ein Augenblick im Leben, aber es war auch ein ganzes Leben in einem einzigen Augenbllck. Warum sonst würde ein Leser das Buch einer Siebzehnjährigen unter der Sparte ‚Autobiografie’ suchen?
Rückkehr unmöglich
Sie möchte Politikerin werden, sagte Malala bei ihrem kurzen und erstaunlich erwachsenen ‚Acceptance Speech’. Sie sagte es mit derartiger Einfachheit, dass die abgewertete Münze ‚Politiker’ für einen Augenblick etwas Goldglanz erhielt. Wer dieser Idee aber weiter nachgeht, wird irgendwann in einer beklemmenden Schlussfolgerung enden. Schon heute ist nämlich klar, dass Malala auf absehbare Zeit ihre Heimat nicht wird betreten können. ‚Absehbare Zeit’ kann auch ein ganzes Leben meinen. Und das Ende wäre dann sofort absehbar, wenn sie einmal pakistanischen Boden betreten hätte.
Dies hat natürlich in erster Linie mit ihrem Vater- und Mutterland zu tun. Pakistan ist heute umstellt von existentiellen Krisen. Die einzige Möglichkeit, sich noch einen Reim auf das eigene Land zu machen und nicht daran zu verzweifeln, ist Flucht. Die Flucht in eine Welt, in der alle diese Probleme nicht hausgemacht sind, sondern von ‚Feinden Pakistans’ eingefädelt wurden – von Indien natürlich, den USA, dem Mossad.
Medienstar bevor sie gesund war
Malala als Agentin des CIA. Es hat natürlich mit der kollektiven Paranoia in Pakistan zu tun, dass sie, diese Perle in einem wahrhaften Schlammfeld, auch in die Konstruktion des feindlichen ‚Andern’ hineingebaut wird. Es hat aber auch mit unserer westlichen Jagdgier nach Ikonen, Stars, Siegergestalten und Opferlämmern zu tun. Malala wurde zum Medienstar gemacht, noch bevor sie gesund werden konnte, noch bevor sie erwachsen wurde. Sie wird unter Vertrag oder zumindest Beschlag genommen und vor der Weltöffentlichkeit paradiert. Dahinter verbirgt sich nicht immer nur Respekt und Bewunderung. Da ist auch der uneingestandene Impuls, die Islamisten, und ein bisschen auch den Islam, vor diesen reinen Spiegel zu zerren. Auch Malala ist ein bisschen Opfer der Kinderarbeit.
Öffentlichkeit macht verletzlich. Sie ist, das zeigt die Arbeit Satyarthis, auch Schutz, oder zumindest eine Schadensbegrenzung. Ohne ein Mass an Visibilität hätte auch ihn irgendwann die Kugel eines Auftragskillers getroffen.
Beide Premierminister zur Preisverleihung einladen
Dennoch, als Opfer sehen sich weder Yusafzai noch Satyarthi. Das zeigten sie bereits am Abend der Preisverkündung. Am Telefon hätten sie abgemacht, sagte Malala, die Premierminister ihrer Länder zur Preisverleihung einzuladen. Man glaubt ihnen, dass sie diese Form von Öffentlichkeit nicht für ihre PR suchen. Vielleicht wollen sie erreichen, dass sich die Lenker der beiden verfeindeten Bruderstaaten an diesem Friedensforum treffen. Und damit einen Prozess beginnen, der sie selber vielleicht einmal zu Empfängern von Alfred Nobels Friedensmedaille macht. Damit hätten die beiden diesjährigen Preisträger dem Komitee – und uns allen – gleich einen doppelten Friedensdienst erwiesen.