Mitten in den Wahlkampf für vier Provinzwahlen (fünf, wenn man den Mini-Staat Pondichery einrechnet) platzte die zweite Covid-Welle. Man kann es als erwiesen betrachten, dass der Urnengang auf die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger wirkten.
Modis Herrschaftsanspruch
Jede Wahl in Indien ist eine lärmige Angelegenheit. Jede öffentliche Versammlung wird in einem Land mit 1’400 Millionen Bewohnern rasch zu einer Massenveranstaltung. Es sind ideale Voraussetzungen für die Mikrobenbläschen, die sich in den Atmungsorganen festsetzen und durch Ein- und Ausatmen verbreiten. Die rund achthundert toten Wahlfunktionäre nach der ersten (!) Runde der (separaten, aber gleichzeitig stattfindenden) Gemeindewahlen im Bundesstaat Uttar Pradesh sind ein makabrer Beweis dafür.
Aber hat das Virus und seine Bekämpfung auch das Wahlverhalten beeinflusst? Das ist auf den ersten Blick nicht anzunehmen. Erstens war der Wahlkampf bereits in vollem Gang, als die zweite Welle hochschnellte. Vor allem aber waren die verantwortlichen Regierungen auf alle Streitparteien verteilt. Indien ist immer noch eine föderale Republik, mit geteilten Kompetenzen zwischen Zentralstaat und Regionalbehörde. Die nationale BJP-Regierung war dafür ebenso verantwortlich wie die BJP-Gegner, die in den Provinzen am Ruder sind.
Dazu kommt die beherrschende und polarisierende Figur des Premierministers. Für Narendra Modi ist jede Wahl ein Referendum für oder gegen ihn selbst. Und sein ideologisch zugespitzter Herrschaftsanspruch hat auf das ganze Land und dessen Institutionen eine derart tiefgehende Wirkung gehabt, dass auch der Opposition nichts übrig bleibt, als diese plebiszitäre Herausforderung anzunehmen.
Die Bedeutung Bengalens
Was zeigen die Resultate? Auf den ersten Blick können sich sowohl die nationalen wie die regionalen Parteien, sowohl die nationalistische Rechte wie die Linke als Sieger – und als Verlierer betrachten. Die BJP sicherte sich den Sieg in Assam, und konnte im Südstaat Tamil Nadu und Pondichery erstmals punkten. Aber sie verlor die Herausforderung in Kerala, wo sie entgegen den Voraussagen keinen einzigen Sitz errang.
Die Kongresspartei hatte in Tamil Nadu ebenfalls ein paar Sitze gewonnen, aber verpasste einen Wahlsieg in Kerala um Meilen. Die Kommunistische Partei dagegen errang dort einen Wahltriumph, ging aber in ihrer alten Wahlbastion Westbengalen (ebenfalls wie die Gandhi-Partei) praktisch unter.
Dieses formell ausgeglichene Panorama verbirgt aber die politische Tragweite des Wahlausgangs in Westbengalen. Das bevölkerungsreiche Bundesland ist nicht nur demografisch – und damit politisch – von grosser Wichtigkeit. Es ist in einem gewissen Sinn das Kernland der indischen Demokratie und damit im Brennpunkt der Frage, ob Indien ein Hindu-Staat wird oder eine multireligiöser Gesellschaft bleiben kann.
Umstrittener Säkularismus
In Bengalen entstanden die ersten nationalen Freiheitsbewegungen, sei es in Gestalt der Reform des Hinduismus oder des Aufstands gegen den Kolonialherrn. Wie in keinem anderen Bundesstaat ist das Thema des Säkularismus und der Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen so akut.
Die Region wurde nach der Unabhängigkeit entlang dieser religiösen Trennlinie geteilt – Hindus in Westbengalen, Muslime in Ost-Pakistan (und später Bangladesch). Die gemeinsame bengalische Ethnizität hat diese politisch-religiöse Trennlinie jedoch porös gemacht. Sie sorgte dafür, dass die Muslime auch im westlichen Teil immer noch knapp ein Drittel der Bevölkerung stellen.
Bengalen war im 19. Jahrhundert die Geburtsstätte der Hindutva-Ideologie. Bei der Trennung von Indien und Pakistan von 1947 kam es in den Strassen von Kalkutta zu regelrechten Metzeleien zwischen den Gemeinschaften. Dennoch wurde Westbengalen in Sachen friedlichen Zusammenlebens zum vorbildlichsten Staat Indiens. Und es gelang der nationalistischen BJP nie, dort Fuss zu fassen.
Harte Bandagen
Statt einer hinduistischen Augenweide war Bengalen ein Dorn im Auge der Nationalisten. Dies musste nun, so schworen sie nach der Etablierung ihrer Vormachtstellung unter Modi, ein Ende haben. Modis Mann fürs Grobe, Innenminister Amit Shah, begann schon vor drei Jahren an der Machtergreifung 2021 zu arbeiten, unterstützt vom Hindu-Kaderverband RSS mit seinen vielen tausend bengalischen Getreuen.
Die regierende Lokalpartei Trinamool Congress, und besonders deren charismatische Führungsfigur Mamata Banerjee, schienen ein ideales Opfer. Auch Mamata kann demagogisch auftreten, ihr Umgang mit Parteigenossen ist autoritär, und als frühere Strassenkämpferin toleriert sie Rowdies in ihren Reihen.
Aber sie sieht sich auch als eine Tochter Bengalens, die stolz ist auf dessen reiche Sprache und Kultur, in der auch das Zusammenleben mit den Muslimen eine grosse Rolle spielt. Ihre kleinbürgerliche Herkunft aus einem Armenquartier Kalkuttas gibt ihr den richtigen «Touch», um die grosse Masse der Arbeiter und Bauern in diesem reichgesegneten und dennoch armen Land anzusprechen.
Massenveranstaltungen trotz Corona
Amit Shahs Langzeitstrategie gipfelte wie von selbst in einem Endkampf, in dem die Trumpfkarte Modi der kleingewachsenen «Didi» – dem Kosenamen vieler Wähler für Banerjee, wörtlich «ältere Schwester» – den Gnadenstoss versetzen würde.
Und Modi tat es mit Gusto, nie erlahmendem Einsatz, und – Covid hin oder her – der Organisation von Massenveranstaltungen, in denen er zur Vollform auflief. Er tat es nicht staatsmännisch überlegen, sondern griff sie frontal an, indem er sie etwa als Wasserträgerin einer allmählichen muslimischen Majorisierung verunglimpfte. Und er konnte auch unter die Gürtellinie zielen. «Di…di" intonierte er im schlüpfrigen Singsong von Strassenjungen, die Frauen aus der Distanz als sexuelle Jagdbeute kirren.
Modi wird akzeptiert
Die BJP war überzeugt dass sie die absolute Mehrheit erringen würde. Nicht nur hatte sie Modi als Zugpferd; die Kongress-Partei und die Kommunisten, die Westbengalen in dreissig Jahren zuschanden geritten hatten, stellten eigene Kandidaten auf – sie würden also die Anti-BJP-Front spalten. Und über hundert ehemalige Trinamool-Politiker sprangen zur BJP über, wohl weil sie den ruppigen Führungsstil Didis satt hatten.
Es half alles nichts. Kongress und CPI(M) gingen leer aus, und die BJP errang weniger als hundert Sitze, gegenüber 214 für Mamata Banerjee. Es war ein persönlicher Triumph für sie, verbunden mit einem Wermutstropfen: sie selber verlor gegen den Spitzenkandidaten der BJP, ihren ehemaligen Schützling Adhikari. (Es ist keine Katastrophe. Einer ihrer erfolgreichen Abgeordneten wird zurücktreten, sie wird die Nachwahl gewinnen und im Triumph in Kalkutta einziehen.)
Was mehr wiegt als der Sieg von Banerjees Trinamool ist die Niederlage Modis. Einmal mehr hat das Wahlvolk Indiens klargemacht, dass es Modi als nationalen Führer akzeptiert, aber dessen Macht ausbalancieren will, indem es in Provinzparlamenten Oppositionsparteien zum Sieg führt. Bei der Parlamentswahl von 2019 hatte es der BJP die Hälfte aller bengalischen Sitze in Delhi anvertraut, mit vierzig Prozent aller Stimmen; diesmal war es nur ein Fünftel.
Versagen des Führungssystems
Wird die Niederlage die allmähliche Erosion von Modis Unbesiegbarkeitsmythos beschleunigen? Seine Stärke gründet allerdings auch auf der Schwäche der Opposition. Ihre wichtigsten Spieler sind Parteien mit einem regionalen Fokus – ein schwaches Bindemittel. In Westbengalen raffte sich ein Zusammenschluss von dreizehn solchen Parteien erst im letzten Augenblick auf, sich hinter Banerjee – und gegen Kongresspartei und Kommunisten – zu stellen.
Modi wird die Niederlage also verwinden, trotz des angekratzten Image. Seine Langzeitstrategie, das zeigte sich auch in diesem Wahlkampf wieder, ist, sich neutrale staatliche Institutionen wie Justiz und Medien gefügig zu machen.
Die Wahlkommission, deren Unabhängigkeit viele Jahre legendär war, ist ein weiteres Beispiel. Wie schon in der letzten Parlamentswahl zeigte sie sich blind gegenüber schweren Verletzungen der Wahlkampfregeln durch die BJP. Nur Tage nach der Wahl trat der oberste Election Commissioner zurück – und wurde mit dem Ehrenamt eines Gouverneurs von Goa belohnt.
Covid war wohl nicht verantwortlich für die Niederlage der BJP in Bengalen. Dennoch ist das Virus auch für den Premierminister politisches Gift. In der wohl schwersten existenziellen Krise des Landes hat sein Führungssystem, in dem alles auf seine Person zugeschnitten ist, versagt. Er wurde von den Ereignissen überrollt, und weder seine Jasager-Minister, noch die RSS-Kader, noch seine medialen Spin-Doctors konnten ihn und sein Allmachts-Narrativ retten.