Dover, Weihnachten. Die trostlose Eintönigkeit eines verhangenen Himmels, nassglänzender Asphalt, Lastwagenkolonnen, die sich wie eine Kette auf das Land legen. Dazu schlotternde Chauffeure – ein Wortpaar voller Hohn.
Mittendrin dann einige Farbtupfer, und bizarrerweise stammten sie von ... Turbanen. Sie bewegten sich unter Zeltplachen, wo Mitglieder der englischen Sikh-Gemeinschaft hinter riesigen Kochtöpfen Tee und Suppe brauten und den Lastwagenfahrern ausschenkten.
So behelfsmässig die Zelte aussahen, sie verdienten den Namen, den die Helfer ihnen gaben: Langar. Jeder Besucher eines indischen Sikh-Tempels kennt den Ausdruck. Es ist die den meisten Gurdwaras angeschlossene Grossküche, die tagein, tagaus für die Tempelbesucher Gratisessen zubereiten, in ebenso unmittelbarer Nachbarschaft zum Dharamsala, wo Pilger und Besucher (ebenfalls kostenfrei) Unterkunft finden.
Seva
Für die Freiwilligen, die sich zur Küchenarbeit oder Zimmerreinigung melden, heisst diese Arbeit Seva. Sie ist damit auch Teil einer religiösen Praxis, gleichgestellt mit Gebet, Gesang und Meditation. Das Nebeneinander von Tempel, Küche und Schlafsaal ist ein physisches Symbol für ein lebendes Ritual, das die Grenze zwischen profan und sakral auflöst.
Langar Sewa ist nicht einmal an diese Örtlichkeiten gebunden, schaut man auf Dover im Dezember 2020. Immer, wenn direkte materielle Unterstützung gefordert ist, sind Sikhs mit ihren Langars zur Stelle. Es können Trinkwasser-Zelte in der indischen Sommerhitze sein, Pilgerzüge, die durch eine Stadt führen, Naturkatastrophen oder Protestdemos: Immer bilden sich spontan lokale Sikh-Komitees, die uneigennützig Geschirr, Tische, Geschirr, Zeltstangen – und Tranksame – herbeischaffen und an Strassenrändern aufbauen.
Die Sikh-Gemeinschaft geniesst in Indien den Ruf, die mobilste Volksgruppe zu sein. Die farbenreichen Turbane tauchen im Strassenbild jeder indischen Stadt – und inzwischen überall auf der Welt – auf. Wie jedes Bauernvolk scheuen die Sikhs keine Arbeit, auch und gerade solche, bei der man zugreifen muss und sich die Hände schmutzig macht.
Arbeit mit den Händen
Dass sie gerade in Dover auftauchten, ist nicht nur dem karitativen Impuls geschuldet. Es hat auch mit den schrötigen Lastwagen und ihren Betreibern zu tun. Jeder zweite Lastwagenfahrer, Taxi-Chauffeur und Auto-Garagist in Indien ist ein Sikh.
Ein Gradmesser ihrer allgemeinen Beliebtheit sind die Witze, die man über sie reisst (sie tun es auch über sich selber); Sikh-Humor ist schon lange ein fester Bestandteil der indischen Volkskultur. Dass der Kern dieser Witze die angebliche Tölpelhaftigkeit der Sikhs ist, ist vielleicht nur der hilflose Abwehrmechanismus einer brahmanischen Elite-Kultur, die es nicht fassen kann, dass Arbeit mit den Händen etwas Ehrenhaftes (und Erfolgreiches) darstellen kann. Wie können gestandene Männer und Frauen wildfremde Leute „bedienen“, ohne einen Gegendienst zu erwarten!
In Dover – und in diesen Wochen auch in zahlreichen mobilen Langars überall auf der Welt – waren die Turbane allerdings nicht die einzigen ethnischen Markierungspunkte. Hinter den Kochkesseln hingen auch Spruchbanner, die zur „Solidarität mit unseren Brüdern und Schwestern in Indien“ aufriefen.
Gegen neue Landwirtschaftsgesetze
Dass sich ein litauischer Lastwagenfahrer darauf keinen Spruch machen konnte, war wohl auch den Sikhs klar, die Tee und Suppe ausschöpften. Mit ihrer Bauernschlauheit schielten sie wohl eher auf die TV-Kameraleute hinter den Warteschlangen. Sie spekulierten mit Recht mit deren Hunger nach etwas Farbe und Emotion in dieser grauen Wüste von Containern, müden Fahrern und Funktionären.
Denn was sich in eben diesen Tagen in Indien abspielt, bringt auch Diaspora-Sikhs in Rage. Zwar haben sich Bauern in ganz Indien, und nicht nur die Sikhs, gegen neue Landwirtschaftsgesetze erhoben. Doch das Gesicht dieses Aufstands wird wesentlich geprägt von den Bauern in den Bundesstaaten Haryana und Panjab, deren Getreidefelder vor den Toren der Hauptstadt liegen. Der wasserreiche Panjab – das „Fünfstromland“ – entwässert den gesamten westlichen Himalaya. Er wurde vor sechzig Jahren zur Keimstätte der Grünen Revolution ausersehen. Seitdem ist er (zusammen mit dem von ihm abgetrennten Haryana) zum Überschussproduzenten und Kornspeicher des gesamten Landes geworden.
Ich bin in meinem vorletzten Journal21-Beitrag auf die Hintergründe des massiven Widerstands gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze der Modi-Regierung eingegangen. Obwohl sie tiefgreifende Veränderungen der landwirtschaftlichen Ökonomie vorsehen, waren die Vorlagen ohne jegliche Vernehmlassung und parlamentarische Diskussion abgefertigt worden. Nicht einmal die Bundesstaaten erhielten Gehör, obwohl sie gemäss der föderalen Verfassung für die Landwirtschaft zuständig sind.
Nicht aufgeben trotz Winterkälte und Wasserwerfern
Angesichts der kompromisslosen Haltung Modis beschlossen zwanzig Bauernverbände am 26. November, die grossen Einfallstrassen vor den Toren Delhis zu besetzen. Die Blockade würde erst aufgehoben, wenn er die Gesetze zurückzieht. Weder massive Polizeieinsätze, mit Wasserwerfern, Tränengas und einem Dutzend Toten, noch die sechs Gesprächsrunden führten zu einem Durchbruch.
Die Blockade der Stadt ist auch zwei Monate später nicht ins Wanken geraten. Die Frage ist, warum die Bauern trotz Winterkälte und Wasserwerfern nicht aufgegeben haben. Wer die Bilder der vielen YouTube-Nachrichtenkanäle gesehen hat, kennt die Antwort. Sie lautet, in einem Wort: Langar Sewa.
Was ist die beste friedliche Strategie gegen eine überwältigende und gewaltbereite Polizeipräsenz? Man baut einen Bazar, zum Beispiel an der alten Heerstrasse des National Highway Number One, dort wo sie Delhi verlässt. Statt Barrikaden und Stacheldraht zieht sich dort über sechs Kilometern ein Gewühl von Zelten, Bambusmasten und Traktoren hin, von Lastwagen, Plastikstühlen und zusammengerollten Matratzen, von Scheinwerfern und Lautsprechern, und vor allem: von Tausenden Menschen, die dort ... wohnen.
Gegen den langen Atem des Staates
Unter den Zeltplanen stehen nicht nur Feldküchen mit Gaskanistern und riesigen Töpfen, lange Tische, hinter denen Männer und Frauen Reis und Dal und Curry und Halwa – Milch- und Zuckerpudding – verteilen. Es reihen sich auch, wie in jedem Bazar, Laden an Laden, in denen praktisch alles angeboten wird, mit einem grossen Unterschied: Alles ist gratis zu haben.
Denn wer sich gegen den langen Atem des Staats wappnen will, muss dort leben können. Man braucht dafür nicht nur die überdachten Wannen der Lastwagen zum Schlafen, oder die Freiräume zwischen den Zapfsäulen einer Tankstelle, wo man eine Matratze ausbreiten kann. Man ist auch angewiesen auf alles Lebensnotwendige: Decken, Unterwäsche, Kosmetika, Seife, Zahnpasta, Medikamente (besonders gefragt: Diabetes- und Blutdruckmittel, selten: Leute mit Covid-Symptomen), Trinkwasser, Sandalen, Mützen und Schals gegen die Kälte, Bücher und ... Gesichtsmasken.
Jeden Tag treffen sie ein, aus Delhi und anderen Grosstädten, aus den Dörfern kommen vor allem Gemüse, Reis, Mehl, Pickles und Gewürze. Mit dem Geld, das Unterstützungskomitees aus der ganzen Welt überweisen, werden die Gaskanister beschafft, Kochöl, Zucker, Salz, hunderttausendfach Plastikgeschirr, werden täglich mehrere Tausend Packs mit Mineralwasser herbeigekarrt. Und da dies alles Abfall generiert, haben sich spontan mehrere Dutzend Putz-Teams gebildet, die jeden Morgen mit dem Reisbesen unterwegs sind.
Das Gemeinschaftsgefühl der Freiwilligenarbeit
Denn wie in jedem Bazar sind neben dem Güterangebot auch Dienstleistungen gefragt. Unter einem Zelt halten Ärzte aus Delhi oder Vancouver Sprechstunden, daneben kann man das Handy aufladen – oder flicken – lassen, Schuhmacher und Elektriker haben ihre Stände aufgebaut. Mechaniker sind zur Stelle, wenn sich die Batterie eines Traktors entladen hat, nachdem sie Abend für Abend die herunterbaumelnden Lampen zum Leuchten gebracht hat.
Ein Mann massiert Füsse und Beine, wegen dem kalten Boden, auf dem Männer, Frauen und Kinder während des Tages zu Hunderten sitzen, um Reden zuzuhören oder Bänkelsängern zu lauschen, die von früheren Aufständen singen. Auf den Videos tauchen auch Handleser auf, die den zweifelnden Demonstranten Glück und Erfolg vorhersagen, und zwar bald.
Doch keiner der Bauern und Bäuerinnen wirken vor den Kameras ausgebrannt, nicht einmal frustriert. Sie geniessen das Gemeinschaftsgefühl der Freiwilligenarbeit, die „Shared Economy“ der Langar Sewa; sie würden hier einfach weiter hausen, friedlich und bestimmt, bis die Regierung nachgibt. Selbst die vielen Sikhs aus Delhi, die jede Woche „Nachschub“ in irgendeiner Form bringen – man sieht eine Familie, die mehrere hundert Taschenlampen und Batterien brachte – schienen eher neidisch zu sein als betroffen.
Für die kommende Woche ist die siebte Gesprächsrunde angesagt. Falls die Regierung nicht nachgibt, starten die Vorbereitungen für die nächste Etappe: Am 26. Januar, dem indischen „Republic Day“, wollen die Bauern ins Stadtzentrum ziehen und dort nach dem Vorbeizug der Regimenter und Schwadronen, ihre eigene Parade durchführen, mit Traktoren und Lastwagen, und einer Million Füssen. Mahatma Gandhi hätte seine Freude.