Die letzten amerikanischen Soldaten haben Kabul verlassen. Taliban-Kämpfer ziehen jubelnd durch die Strassen. Der 20-jährige amerikanische Afghanistan-Einsatz ist zu Ende. Es war der längste Krieg, den die USA je führten.
Das Land, das die Amerikaner und andere westlichen Mächte jetzt hinterlassen, steht am Abgrund. Afghanistan ist laut einer Statistik der Weltbank eines der ärmsten Länder der Welt.
Schon letztes Jahr sagte der jetzt gestürzte afghanische Präsident Ashraf Ghani, dass 90 Prozent der Afghaninnen und Afghanen mit weniger als 2 Dollar pro Tag lebten. Sie vegetieren damit unter oder knapp über der von der Weltbank definierten Armutsgrenze, die bei 1.90 Dollar pro Kopf und Tag liegt.
Doch die Not in Afghanistan besteht nicht erst seit 20 Jahren. Das Land leidet seit mehr als 40 Jahren unter Konflikten, Naturkatastrophen, chronischer Armut und Ernährungsunsicherheit.
Millionen Afghaninnen und Afghanen drohen jetzt zu verhungern. Nach Angaben des Uno-Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP) leidet ein Drittel der 38 Millionen Einwohner an Hunger, oder ist unterernährt, oder hat grösste Mühe, an Nahrung heranzukommen. Betroffen sind vor allem auch Kinder.
Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban vor gut zwei Wochen herrschte in Afghanistan akute Nahrungsmittelknappheit. Betroffen sind vor allem die vier nördlichen Provinzen Daykundi, Faryab, Ghor und Badakshan.
Krieg, Corona, Dürre, Taliban
2021 ist nicht nur ein Kriegsjahr und ein Corona-Jahr, sondern auch ein extremes Dürre-Jahr in Afghanistan. 40 Prozent der Ernte wurden vernichtet, Zehntausende Tiere starben. Jedes Jahr sind in Afghanistan etwa eine Viertelmillion Menschen von Naturkatastrophen betroffen: neben Trockenheit sind es Überschwemmungen, Lawinen, Erdrutsche und Erdbeben.
David Beasley, der Exekutivdirektor des WFP, sagte gegenüber al-Jazeera, dass der Uno demnächst die Nahrungsmittelreserven ausgingen. Die Vereinten Nationen benötigten jetzt dringend 200 Millionen Dollar, um die Nahrungshilfe in Afghanistan fortsetzen zu können, sagt er. «Wir brauchen diese Mittel jetzt, denn die Wintermonate stehen vor der Tür.» Millionen Menschen leben in schwer zugänglichen Gebieten und können im schneereichen Winter kaum erreicht werden.
Viele Hilfsorganisationen zogen ab
Erschwert wird die Situation, weil sich nach dem Sieg der Taliban viele ausländische Hilfsorganisation aus Afghanistan zurückgezogen haben. Zu den wenigen, die bleiben, gehört das IKRK, das in Genf beheimatete Internationale Komitee vom Roten Kreuz. «Auch jetzt werden wir unsere Präsenz nicht verringern und unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nicht aus Afghanistan abziehen», erklärt das IKRK. «Gemeinsam mit unserem Partner, der Afghanischen Rothalbmondgesellschaft, sind wir weiterhin im ganzen Land im Einsatz.»
Auch die Uno und das World Food Programme wollen weiter helfen. Beasley sagt, die Taliban hätten dem WFP zugesichert, dass es weiterhin ungehindert Hilfe nach Afghanistan liefern könne. Das Chaos am Flughafen von Kabul beeinträchtigt die Hilfslieferungen offenbar nicht, da die Lebensmittel und Hilfsgüter mit Lastwagen nach Afghanistan transportiert werden.
Die Taliban hätten bisher mit dem WFP kooperiert, sagte Beasley gegenüber al-Jazeera weiter. «Sie haben uns den Zugang gewährt, den wir brauchen. Ich erwarte, dass das so bleibt.»
«Einer der schlimmsten Orte der Welt»
Auch das Uno-Kinderhilfswerk Unicef will in Afghanistan bleiben. Mustapha Ben Messaoud, Leiter der Unicef-Nothilfe in Afghanistan, erklärte an einer Medienkonferenz in Genf, Afghanistan sei für Kinder «seit vielen Jahren einer der schlimmsten Orte der Welt».
«In den letzten Wochen ist es noch schlimmer geworden», sagte Ben Messaoud. «Wenn wir jetzt nicht sofort handeln, wird bis Ende 2021 eine Million Kinder unter fünf Jahren schwer unterernährt sein, und drei Millionen werden mässig akut mangelernährt sein.»
2,7 Millionen Flüchtlinge
Hunderttausende Afghaninnen und Afghanen sind wegen des Kriegs vor allem in die Nachbarländer Iran und Pakistan geflohen, aber auch nach Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan. Gemäss Angaben des in Genf beheimateten Uno-Hochkommissariat für das Flüchtlingswesen (UNHCR) waren es bisher 2,7 Millionen, die das Land verlassen haben. Allein in Iran und Pakistan leben 2,2 Millionen geflüchtete Afghaninnen und Afghanen.
Mindestens 113’500 Menschen wurden in den vergangenen zwei Wochen von den USA und ihren westlichen Verbündeten vom Flughafen Kabul ausgeflogen.
Das Flüchtlings-Hochkommissariat rechnet damit, dass in den nächsten Monaten erneut eine halbe Million ins Ausland flieht.
Binnen-Flüchtlinge
Dazu kommen die Binnenvertriebenen (Internally displaced people, IDPs): Menschen, die ihre Häuser verlassen mussten und irgendwo im eigenen Land Zuflucht suchten. Die Uno-Organisation OCHA, die humanitäre Einsätze koordiniert und ihren Hauptsitz ebenfalls in Genf hat, gibt ihre Zahl mit 570’482 an. Diese Menschen flüchteten vor allem vor den anstürmenden Taliban oder waren aus wirtschaftlicher Not gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen. Viele ihrer Häuser wurden zerstört. Die meisten dieser Vertriebenen vegetieren jetzt irgendwo im Land. Im August hat sich ihre Zahl im Vergleich zum Vormonat fast verdoppelt.
Die Krise trifft vor allem Frauen und Kinder, erklärt das UNHCR. «Neben Obdachlosigkeit und drohender Gewalt sind sie mit Dürre, Nahrungsmittelknappheit, Corona und einem Gesundheitssystem konfrontiert, das am Rande des Zusammenbruchs steht.»
Hunderttausende Tote
Gemäss neuesten Erhebungen des Watson Instituts der Brown University (Rhode Island) sind als direkte Folge des Krieges 241’000 Menschen getötet worden. Dazu kommen vermutlich Zehntausende Zivilisten, die an Hunger, Krankheiten oder Verletzungen gestorben sind.
Die afghanischen Sicherheitskräfte, das Militär und die Polizei, haben fast 70’000 Mann verloren.
Auf westlicher Seite starben laut neuesten Zahlen von icasualties.org 3’609 Militärangehörige, unter ihnen 2’465 Amerikaner, 455 Briten, 158 Kanadier, 86 Franzosen, 54 Deutsche.
Die Zahl der getöteten Rebellen, einschliesslich der Taliban-Kämpfer, wird auf 84’191 geschätzt.
Bescheidene Fortschritte
Die letzten zwanzig Jahre haben dem Land trotz des Krieges einige Fortschritte gebracht. Diese blieben jedoch trotz Milliardeninvestitionen des Auslands bescheiden. Ein Unicef-Bericht stellte 2019 fest, dass 3,7 Millionen Kinder nicht zur Schule gehen. 60 Prozent von ihnen sind Mädchen.
Die Lebenserwartung stieg von 56 auf 64 Jahre. Die Müttersterblichkeit wurde halbiert. 27 Prozent der Sitze im Parlament waren für Frauen reserviert. Frauen nahmen in der Wirtschaft und im Bildungswesen da und dort einige wichtige Posten ein. Trotzdem rangiert das Land wegen vieler Verstösse gegen die Rechte der Frauen auf dem «Women Peace and Security Index» des «Georgetown Institutes for Women, Peace and Security», an zweitletzter Stelle – nur einen Punkt vor dem letztklassierten Jemen.
Rekordhohe Opium-Produktion
Die USA hatten 9 Milliarden Dollar aufgewendet, um die Opium-Produktion in Afghanistan einzudämmen. Ohne Erfolg. Der Mohn-Anbau florierte in den zwanzig Kriegsjahren wie nie zuvor.
Gemäss einer Stastik des in Wien beheimateten Uno-Büros für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) wurde im Jahr 2000 in Afghanistan Opium (Schlafmohn) auf 82’000 Hektaren kultiviert. Heute beträgt die Anbaufläche fast dreimal so viel: 224’000 Hektaren.
Quellen
UNHCR, Genf
IKRK, Genf
http://icasualties.org
World Bank, Washington
Al-Jazeera
World Food Programme (WFP)
Brown University, Rhode Island
OCHA, Genf
Unicef, New York
Women Peace and Security Index
UNODC, Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung, Wien