Freie Diskussionen wären im Europa von 2012 nicht selbstverständlich, wenn es die EU nicht gäbe. Sie hat seit 1950 an vorderster Front für die friedliche Zusammenarbeit der Länder Europas gekämpft, deren Früchte wir heute geniessen, meistens ohne ihrer Verdienste bewusst zu sein. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sie dem Gemetzel der europäischen Völker und Staaten ein Projekt entgegen, das Europa in sechzig Jahren, wie es der Vorsitzende des norwegischen Friedenskomitees bei der Preisverleihung sagte, aus einem Kriegs- zu einem Friedenskontinent gemacht hat. 1950 lancierte der geniale politische Denker Jean Monnet dieses Programm: den Zusammenschluss der europäischen Länder zu einer Gemeinschaft, deren Länder, Todfeinde seit Jahrhunderten, sich in der gemeinsamen Arbeit für wirtschaftliche und politische Einigung kennen und schätzen lernen.
Zum Erstaunen der Zeitgenossen hatte diese Idee Erfolg: Fünf Jahre nach dem zerfleischenden Krieg schlossen sich sechs feindliche Länder zur ersten EG zusammen, der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl“, die diese beiden für Kriege unerlässlichen Branchen zu einem gemeinsamen Markt zusammenfügten und unter eine „supranationale“, das heisst gemeinsam ausgeübte Regierung stellte. Die Deutschen nahmen dankbar ihre Gleichberechtigung fünf Jahre nach Hitler entgegen, die Franzosen glaubten an die Domestizierung von Deutschlands ewiger Kriegslust in dieser Gemeinschaft.
Gemeinsame Regeln für 500 Millionen Menschen
Diese Sechser-EG hat sich in vielen Schritten zur „EU“, der Europäischen Union gemausert. Aus Rücksicht auf die Besonderheiten der 27 heutigen Mitgliedstaaten ist sie kompliziert geworden und hinterlässt bei vielen ihrer 500 Millionen Bürger und Bürgerinnen den Eindruck, sie sei undurchsichtig und „diktiere“ ihnen aus Brüssel, was sie zu machen und zu lassen hätten. Sie würden aber nie auf den Binnenmarkt verzichten, der ihnen die besten Produkte zu Wettbewerbspreisen bringt und ihren Firmen hindernisfreie Exporte erlaubt. Dafür sind natürlich einheitliche Brüsseler Regeln unerlässlich, alle sind von ihren Regierungen mitbestimmt worden, und die damit verbundenen Einschränkungen und Vorschriften muss man halt auch akzeptieren.
Diese Brüsseler Ameisenarbeit während sechzig Jahren in Kommission, Ministerrat und EU-Parlament hat die Staaten und Völker Europas, die sich jahrtausendelang bekämpften, einander dermassen nahegebracht, dass heute schon nur der Gedanke an einen Krieg unter ihnen nicht mehr exisitiert. Zwei Generationen nach 1945 haben noch gewusst, dass das der EG zu verdanken ist, den Jüngeren ist Frieden und Wohlstand so selbstverständlich geworden, dass sie das nicht mehr sehen. Der Friedenspreis für die EU hätte sein grösstes Verdienst, wenn er diese Jüngeren zum Nachdenken darüber bringt, dass ihnen dieser Friede nicht auf immer garantiert ist, sondern dass seine Voraussetzungen – Zusammenarbeit ihrer Minister in Brüssel, Erarbeiten und Akzeptieren europäischer Harmonisierungen mitsamt ihren Einschränkungen - von jeder neuen Generation aufmerksam weiter gepflegt werden müssen.
Friede, Versöhnung, Demokratie, Menschenrechte
Der Vorsitzende des norwegischen Friedenspreiskomitees hat die grössten Verdienste der EU in vier Worten zusammengefasst: für Frieden, Versöhnung, Demokratie und Menschenrechte. Von einem militanten EU-Anhänger wären das Propagandaphrasen. Vom Friedenspreiskomitee ist das die lange durchdachte und überzeugte Würdigung der Leistung der EU für Europa.
Schweizerische EU-Gegner müssen deswegen ihre Kritik nicht aufgeben. Aber es animiert sie vielleicht, die differenzierte Wirklichkeit „Brüssels“ mit ihren Vorzügen und Fehlern etwas objektiver zu ergründen als mit den ewigen Klischees von „Demokratiedefizit“, „Zentralismus“, „Bürokratie“ undsoweiter.