Wenn ich einer anderen Person etwas mitteilen will, will ich sie überzeugen, einschüchtern, täuschen, für mich gewinnen oder was auch immer. Ich will sie «kneten» – griechisch: «mássein». Das heisst, Informieren und Massieren sind zwei Seiten ein und desselben Vorgangs. The Message is the Massage.
Die These ist nicht neu. Der Titel von Marshall McLuhans berühmtem Buch lautete bekanntlich aufgrund eines Druckfehlers «The Medium is the Massage.» Später postulierten die Evolutionsbiologen John R. Krebs und Richard Dawkins in einem wegweisenden Aufsatz: «Wir unterscheiden zwei Ansichten der Evolution von Tiersignalen. Die eine, die wir als die klassische bezeichnen, betont die Kooperation zwischen Individuen. (…) Die andere Ansicht, die wir vertreten, betont die Kompetition (…) Die Selektion bevorzugt Individuen, die das Verhalten anderer Individuen erfolgreich manipulieren, sei dies zu deren Vorteil oder Nachteil.»
Machiavelli-Intelligenz schon im Tierreich
Manipulieren setzt voraus, dass man den anderen in bestimmter Weise «kennt», sein Verhalten partiell voraussagen kann. Dazu muss man sich in den anderen hineinversetzen können, also eine Vorstellung davon haben, wie er denkt – oder wie es im Englischen heisst: man muss eine «theory of mind» entwickeln. Das können auch andere Tiere. Sie haben das Vermögen des «Unehrlichseins». Die eine Art entwickelt Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen sie die andere ausstechen kann. Die evolutionären Psychologen proben schon länger eine Umwertung der Werte. Sie sprechen von der Machiavelli-Intelligenz bei Tieren, also von einer erworbenen Fähigkeit, die sich der Strategie des «Massierens» bedient: des Irreführens, Verwirrens, Übervorteilens. Kommunikation findet im Struggle for Life ständig statt. Sie ist zweischneidig. Sie dient der Information wie der Manipulation. Rabenvögel zum Beispiel sind ausserordentlich intelligente Tiere. Sie zeichnen sich sowohl durch ihre kommunikativen wie manipulativen Fähigkeiten aus. Wenn sie sich durch andere Vögel beobachtet sehen, tun sie so, als ob sie ihr erbeutetes Futter verstecken würden, tatsächlich behalten sie es im Schnabel, um es zu einem späteren Zeitpunkt unbeobachtet zu deponieren. Die Evolution belohnt solches Verhalten.
Bullshitten ist «Massieren»
Eine weit verbreitete Form des «Massierens» nennt man heute «Bullshitten». Es hat sich zum allgegenwärtigen dominanten Kommunikationsstil gemausert, so dass sich die Forschung vermehrt mit der Frage zu beschäftigen beginnt, ob denn daran nicht doch respektable soziale Kompetenzen zu erkennen seien. Nachgerade symptomatisch scheint mir der Titel einer Publikation (Preprint) von kanadischen Psychologinnen und Psychologen zu klingen: «Bullshit Ability as an Honest Signal of Intelligence». In der Konklusion liest man: «Wir stellen fest, dass jene, die geschickter sind, befriedigenden (…) Bullshit zu produzieren, auf einer Skala kognitiver Fähigkeiten höher rangieren und auch von anderen als intelligenter wahrgenommen werden (…) Aufs Ganze gesehen, lässt sich die Fähigkeit, befriedigenden Bullshit zu erzeugen, als Strategie betrachten, erfolgreich durch soziale Systeme zu navigieren.» «Befriedigend» ist der Bullshit dann, wenn er nicht gleich als solcher erkannt wird.
Als erste Reaktion neigt man dazu, den Artikel selber in die Kategorie des wissenschaftlichen Bullshits einzuordnen: Ehrlicher Bullshit, ist das nicht das berüchtigte hölzerne Eisen? Bis eine Fussnote aufklärt: In der Ethologie bezeichnet man ein Signal als «ehrlich», wenn es akkurate Information über verborgene Eigenschaften eines anderen Organismus enthält. Ein Frosch signalisiert durch seine grelle Färbung «ehrlich» seine Giftigkeit und schreckt den potenziellen Feind ab. Ein unehrliches Signal wäre die Färbung bei einem ungiftigen Frosch. Er täuscht damit den Feind – was für das Überleben natürlich ebenso wichtig sein kann. Beide sind «massierende» Manöver, bringen selektive Vorteile.
Eine kulturelle Regression
Bullshitten als «ehrliches» Anzeichen von Intelligenz zu betrachten irritiert aus einem ganz bestimmten Grund. Zweifellos erweisen sich manipulative Taktiken da als vorteilhaft, wo der Erfolg von der Geschicklichkeit abhängt, andere zu «massieren». Also nahezu überall heute. Und deshalb sollte uns nicht die Frage nach dem Zusammenhang von Bullshit und Intelligenz beschäftigen, sondern vielmehr das Motiv der Fragestellung.
Denn hier stossen wir auf das Symptom einer tieferen kulturellen Regression. Unser aktuelles Kommunikationsverhalten lässt auf weiten Gebieten sozialen Lebens – und das heisst immer mehr: in den sozialen Netzwerken – den Charakter der freien Wildbahn erahnen, in Anlehnung an Nietzsche: den Willen zur Manipulation. Es herrscht ein Selektionsdruck, unter dem man nur durch Täuschen, Tricksen, Faken: durch «Massieren» des anderen erfolgreich besteht. Ein Biotop für die Spezies der Leugner, Spinner, Zyniker und Trolle.
Die Ökologie des Bullshits
Man kann darüber mit den Schultern zucken. Aber dass «Massieren» allgemein höher bewertet zu werden scheint als ehrliches Informieren, beschert uns ein wirklich ernstes intellektuelles Umweltproblem, genauer gesagt, drei Probleme: Produzieren von Bullshit ist leicht, Entsorgen von Bullshit dagegen unverhältnismässig schwieriger; der «Beweis» von Bullshit braucht wenig Grips, seine Widerlegung dagegen sehr viel; viraler Bullshit verbreitet sich schneller als alle Korrektur- und Widerlegungsversuche.
In dieser Ökologie des Bullshits gewinnt eine andere Form von Intelligenz an Kontur: die kognitive Fähigkeit, Bullshit überhaupt zu identifizieren. Der bekannte Wissenschaftsautor Carl Sagan nannte schon 1996 die «Balony Detection» – die Quatscherkennung – eine «hohe Kunst». Sie verkümmert weitgehend in den Augiasställen der Social Media. Der blosse Ausruf «Bullshit!» genügt nicht. Man wirft bloss mit dem Dreck um sich, den man beseitigen möchte. Darauf wartet der eingefleischte Bullshitter nur. Er reisst den Gegner auf jenes Niveau herunter, auf dem er seine intellektuelle und moralische Kernfäule auszuspielen weiss.
Die Zersetzung des Vertrauens
«Calling Bullshit» lautet deshalb der Titel eines neuen Buches, geschrieben vom Biologen Carl Bergstrom und vom Informatiker Jevin West. «Calling Bullshit» ist Fanal und anspruchsvolles Programm zugleich. Es braucht zahlreiche Fähigkeiten, um sich vom Müll «massierender» Information loszustrampeln, angefangen damit, dass man im gegenwärtigen Gezwitscher wieder mehr als 300 Zeichen lesen und schreiben kann, über die Fähigkeit, Diagramme und statistische Numerologien zu interpretieren, wissenschaftlichen Behauptungen, die nur auf Korrelationen beruhen, mit Skepsis zu begegnen, bis zum Misstrauen gegenüber den Versprechen von Big Data, speziell den oft schwärmerischen Visionen der Künstlichen Intelligenz. Die Liste liesse sich fortsetzen.
«Den Bullshit benennen», schreiben die Autoren, «ist ein moralischer Imperativ.» Damit sprechen sie die ethische Tragweite des Problems an. Der Wille zur Wahrheit ist konservativ. Und was bewahren wir? Ganz einfach: Vertrauen in den anderen. Ich kann zum Beispiel mein Wissen über mRNA-Impfstoffe aus Büchern oder Wikipedia holen, aber im Wesentlichen beruht es auf Vertrauen. Alle unsere zivilisatorischen Errungenschaften – Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Politik, Religion – sind Systeme des Vertrauens. Sie sehen sich heute durch eine «kriegerische» Haltung herausgefordert, die dem anderen a priori täuschenden Vorsatz, Feindseligkeit, üble Absichten oder Irrationalität unterstellt. Sie infiziert weite Teile des öffentlichen Lebens, im viral um sich greifenden Empörungs-, Verdächtigungs-, Beschuldigungs- und Bedrohungsdiskurs.
Wahrheitwollen und Wohlwollen
Wahrheitwollen und Wohlwollen sind verschwistert. Das hatte bereits der spanische Philosoph Ortega y Gasset in seinem Buch «Der Aufstand der Massen» 1929 erkannt: «Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an, von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt». Bullshitter lassen sich daher als Leute definieren, welche diese Anerkennung verweigern. Sie haben keine Meinungen, sie sondern einfach Meinungen ab wie Speichel. Und andere, die diesen Speichel unkritisch resorbieren, sind infolgedessen …
Die digitale Öffentlichkeit mutiert zu einem einzigen monströsen Massagesalon. Gelangen wir an den Punkt, wo wir Bullshitten als «ehrliche» soziale Kompetenz akzeptieren, bedeutet dies, dass wir den Dreck zelebrieren, in dem der Verstand erstickt.