Wohin der saudische König Salman verreist ist, wurde nicht bekannt gegeben, und auch nicht, wie lange er von seinem Königreich fernbleiben wird. Vermutet wird, der Ort sei Marokko. Über die Dauer der Abwesenheit gibt es keinerlei Vermutungen. Für den Augenblick stellt Kronprinz Muhammed Bin Salman (MBS) die oberste Macht im saudischen Königreich dar.
Der Aufstieg des bevorzugten Königssohns
Zum Kronprinzen wurde MBS am 21. Juni befördert. Es gibt eine
offizielle Version darüber, wie dies geschah, und zahlreiche
inoffizielle Gerüchte, die diesen Vorgang nachzuzeichnen und zu
erklären bestrebt sind. Vor dem 21. Juni war MBS der zweite
Thronfolger gewesen, der Kronprinz war sein 27 Jahre älterer Vetter,
Muhammad Bin Nayef (MBN).
Die offizielle Version besagt, MBN sei freiwillig zurückgetreten.
Gefilmt und vielmals am Fernsehen gezeigt wurde, wie MBS, der neue
Thronfolger, seinem älteren Vetter die Hand küsste und ihm erklärte,
er, der neue Kronprinz, hoffe inskünftig von der Erfahrung des Älteren
zu profitieren. MBN war, wie vor ihm sein Vater, der 2012 gestorben
war, Innenminister gewesen und galt als die schwerste und auch
erfolgreichste Hand, durch welche die Welle des gewalttätigen
Jihadismus bewältigt wurde, die Saudi Arabien vor rund zehn Jahren
heimsuchte. Den amerikanischen Sicherheitsbeamten galt MBN als der
best qualifizierte Gesprächspartner.
Ein Palastcoup?
Die Hintergrundberichte und Gerüchte begannen mit der Enthüllung, nach welcher MBN in seinem Palast in Jedda unter Hausarrest stehe. Er könne keine Telephonate entgegennehmen, so hiess es, seine Leibwache sei ausgewechselt worden. Nur enge Familienangehörige dürften ihn besuchen. Nur einmal hätten ihm seine Wächter erlaubt, den Palast zu verlassen, um seine alternde Mutter zu besuchen.
Dem folgten inoffizielle Berichte darüber, wie sich die Absetzung des
bisherigen Kronprinzen zugetragen habe. Er sei spät in der Nacht
unerwartet zum König gerufen worden, so hiess es. Dieser habe ihm
mitgeteilt, dass er sein Amt und seine Stellung als Kronprinz aufgeben
müsse. Man habe ihn dann in ein anderes Zimmer verbracht und ihm seine Mobiltelephone abgenommen. Dann habe man ihm nahe gelegt, er solle freiwillig zurücktreten. Eine volle Nacht lang habe er widerstanden, jedoch schliesslich nachgegeben. Darauf sei dann die Szene mit seinem um 27 Jahre jüngeren Vetter und Nachfolger, dem neuen Kronprinzen MBS, gefilmt worden.
Die angebliche Begründung der Entlassung
Neue Gerüchte, die später folgten, wollten wissen, der König habe
seinem vormaligen Kronprinzen eröffnet, es sei ihm mehrmals nahe
gelegt worden, ärztliche Hilfe zur Bewältigung seiner Abhängigkeit von
schmerzlindernden Drogen zu suchen. Da er dies nicht getan habe,
müsse er auf seine Ämter verzichten. Denn unter den gegebenen
Umständen sei kein Verlass auf seine Urteilskraft.
Die angeblichen Schmerzen sollen, nach dieser Version, die Folge eines
Bombenanschlags sein, den MBN Ende August 2009 erlitt. Diese
Drogenversion, die von der Agentur Reuter und auch von der „New York
Times“ veröffentlicht wurde, soll von – anonym gebliebenen – hohen
Hofbeamten bekannt gemacht worden sein.
Ein Verleumdungsversuch?
Eine weitere Version wurde von David Hearst auf der Website „Middle
East Eye“ vorgelegt. David Hearst ist der Herausgeber dieser
elektronischen Fachpublikation, ein erfahrener Journalist und sehr gut
eingeführter Kenner der Nahostpolitik, aber kein Bewunderer der
saudischen Dynastie. Er will aus zwei, anonym gebliebenen, Quellen
erfahren haben, woher die erwähnte „Drogenversion“ stamme. Urheber sei Saud al-Qahtani, der Sekretär des königlichen Hofes. MBS hatte dieses Amt inne, bevor er zum Zweiten Thronfolger ernannt worden war. Er hatte es damals einem verlässlichen Gefolgsmann übergeben.
Der Sekretär des Königlichen Hofes pflegt den Journalisten des Königreiches zu telephonieren, um ihnen klar zu machen, was sie schreiben oder twittern dürfen und was nicht. Er soll, gemäss Hearst, das Interview mit anonymen Beamten in die Wege geleitet haben, auf das sich Reuter beruft. Seine Quellen versichern Hearst, diese Drogen-Version sei falsch und dazu bestimmt, das Ansehen des abgesetzten Mohammed Bin Nayef (MBN) zu schädigen und den „Coup“ seines jüngeren Vetters, MBS , zu rechtfertigen.
Ein Prinz twittert zu Gunsten von MBN
Eine gewisse indirekte Bestätigung dieser Annahme liegt durch einen
„Tweet“ vor, der unter dem arabischen Titel „Keine Schädigung für
Ben Nayef“ umgeht. Einer der vielen Vettern des neuen Thronfolgers,
Abdelaziz Bin Fahd, signalisiert Zustimmung, indem er sich unter
diesem Obertitel, ohne einen Namen zu nennen, offenbar an den
Kronprinzen richtet. Er sagt: „Du kennst mich. Ich habe dich nie
hintergangen – und auch sonst niemanden. Sogar wenn die ganze Welt Dir zur Seite steht, kann niemand Dir helfen, und Du weisst es selbst.
Wende Dich an Gott und suche Seine Hilfe aus deinem tiefsten Herzen.
#kein Schaden für Ben Nayef.“
Kurz darauf ermahnt er die gleiche Person in einem zweiten Tweet:
„Verzweifle nicht. Such Gottes Hilfe. Wenn Du das tust, erlangst Du
den Sieg.“#kein Schaden für Ben Nayef.“
Zwei Tage darauf greift derselbe Vetter, auch in zwei Twitter-Nachrichten, sehr bitter und eher grobschlächtig den Herrscher der VAE an, Mohammed BenZayed, MBZ, der als ein enger Freund und Mentor des Kronprinzen MBS gilt.
Die Sachverständigen für Saudi Arabien sehen dies alles als ein selten
sichtbares Zeichen von Zwist innerhalb der königlichen Familie.
Normalerweise geht die weit verzweigte Familie darauf aus, alle
Streitigkeiten unter sich zu erledigen und sie vor der Umwelt
verborgen zu halten. Doch diesmal scheinen die Zerreissproben
innerhalb der Familie heftig genug zu sein, um schattenhaft in der
Öffentlichkeit sichtbar zu werden.
Geschwächtes Ministerium des Inneren
Bevor er für seine Ferien ins Ausland verreiste, befahl König Salman
eine Umstrukturierung des saudischen Innenministeriums. Dieses war das Zentrum der Macht des bisherigen Innenministers und Thronfolgers, Mohammed Ben Nayef, MBN, gewesen. Ein Sicherheitsrat wurde gegründet und die SSF, Special Security Forces, die bisher dem Innenminsterium unterstanden – eine Elite-Einheit von rund 10‘000 Mann – sowie weitere Sicherheitskräfte wurden diesem Sicherheitsrat unterstellt.
Der Rat seinerseits steht unter der direkten Kontrolle des Herrschers, nicht mehr des Innenministers. Das in seinen Kompetenzen reduzierte
Innenministerium wurde dem Prinzen Abdulaziz Bin Saud Bin Nayef
anvertraut, einem Altersgenossen und Vetter von MBS und Neffen des
„zurückgetretenen“ MBN. Er gilt als einer der Freunde von MBS. Der
neue Sicherheitsrat, der dem König untersteht, wird in des Herrschers
Abwesenheit durch den neuen Kronprinzen MBS kontrolliert.
Möglicher Umbau der Streitkräfte
Zur Diskussion steht ein möglicher Umbau der saudischen Streitkräfte,
die aus drei unterschiedlichen Armeen bestehen. Es gibt die reguläre
Armee mit ihren Landeinheiten, Marine und Luftwaffe; daneben die
Nationalgarde, die eine Art von Gendarmerie darstellt und aus
Stammesleuten rekrutiert wird; und drittens die Königliche Garde.
Ursprünglich, zu Zeiten des Aufbaus des saudischen Reiches unter Abdul Aziz Bin Saud (König von 1932 bis 1953), dienten Stammesleute in dieser Nationalgarde umsonst, nur für die Nahrung. Ihr Kommandant ist nach wie vor eine der wichtigsten Figuren unter den saudischen
Herrschern. Zur Zeit ist es Meteb Bin Abdullah Bin Abdulaziz. Sein
Vater, Abdullah Bin Abdulaziz, war auch Kommandant der Nationalgarde, bevor er im Jahr 2005 König und der Vorläufer des jetzigen Herrschers wurde. Er starb im Januar 2010. Der Sohn, Meteb, gilt als ein Gegenpol zu MBS, und dies könnte ein Grund für MBS sein, die Nationalgarde entweder aufzulösen oder sie in die reguläre Armee einzuschliessen. Als ein weiterer vermuteter Gegenspieler von MBS gilt Ahmed Ben Abdulaziz, der jüngste der vielen Söhne des Reichsgründers.
Die dritte Armee des Königreiches ist die Königliche Garde. Es heisst,
MBS suche sie auszubauen, mit amerikanischer Hilfe, weil er weder den Speziellen Sicherheitskräften (SSF) traue, die als loyal gegenüber dem „zurückgetretenen“ MBN gelten noch der Nationalgarde unter Meteb.
Die Machtfülle von MBS
Auch ohne einen Umbau der Armeestrukturen ist MBS augenblicklich der mächtigste Mann im Königreich. Sein Vater, der 81-jährige König
Salman, hat ihn für die Zeit seiner Abwesenheit zu seinem Vertreter
ernannt. Abgesehen davon amtiert er als Verteidigungsminister und
damit oberster Lenker des Kriegs im Jemen. Er ist auch der Vorsitzende eines Obersten Wirtschaftsrates, der den Umbau der saudischen Wirtschaft mit dem Zieldatum 2030 bewerkstelligen soll und damit bereits begonnen hat. Und MBS ist dazu noch der oberste Aufseher von ARAMCO, der staatlichen Erdölfirma, von der nach seinen Plänen fünf Prozent in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden sollen, um dem Staat Geld einzubringen.
Spaltung unter den Prinzen der dritten Generation
Man kann vermuten, dass es diese Machtfülle ist, welche die riesige
Menge der Enkel des Reichsgründers in zwei Gruppen aufteilt: Solche,
die MBS nahestehen und ihn stützen, und andere, die sich gegen die
Machtkonzentration in den Händen eines unter ihnen sträuben und
darauf bestehen, dass die Macht der Königsfamilie unter dem Vorsitz
des Königs aufgeteilt und kollektiv ausgeübt werde, wie dies bisher
unter den Söhnen des Reichsgründers üblich war.