Die Bundesratswahlen: Das ist auch die Geschichte eines Lernprozesses. Was am Anfang noch chaotisch und einigermassen unberechenbar abläuft, bekommt mit der Zeit Regeln – formelle und informelle. Entwickelt werden sie in Krisenerfahrungen. – Ein Blick zurück.
Der Bundesstaat ist noch jung, und schon wackelt das nach einem kurzen Bürgerkrieg 1848 eilig gezimmerte Gebilde mitsamt seiner siebenköpfigen Regierung, dem Bundesrat. 1850 bringen die Grossratswahlen im Kanton Bern einen konservativen Umschwung, und auch in den Nationalratswahlen vom 26. Oktober 1851 registriert man einen leichten Rechtsrutsch. «Wie wird es wohl mit den Bundesräthen gehen?» fragt der Urner Regierungsrat Josef Lusser in einem Schreiben an seinen Freund, den Zürcher Nationalrat Alfred Escher. Und weiter: «Werden sie alle – auch Ochsenbein – wieder gewählt? Das ist so die Tagesfrage hier.»
Doch die Unsicherheit, die vielen Gerüchte, auch der Umsturz in Frankreich, wo zwei Tage zuvor Louis Napoleon in einem Staatsstreich die Macht übernommen hat, sie wirken – und zwar so, wie es für die Schweiz nachgerade typisch ist: Die herrschende Machtelite der Radikalen und der Liberalen sieht sich gezwungen zusammenzustehen, trotz wachsender Differenzen in vielen Sachfragen.
«Die Bundesversammlung vermied Experimente und bestätigte bei den ersten Erneuerungswahlen die gesamte Regierungsmannschaft», schreibt zusammenfassend der Bundesratshistoriker Urs Altermatt in seinem zweibändigen Standardwerk zum Bundesrat in der jungen Eidgenossenschaft. «Allerdings verteilte sie Noten, was in der Reihenfolge der Sitze und der Zahl der Stimmzettel deutlich zum Ausdruck kam.»
Ochsenbein wackelt – und fällt
Es gilt noch nicht jene heute praktizierte Regel, nach der die Bundesräte nach Amtsalter zur Bestätigungswahl antreten. Auch die sozialen Bedingungen sind noch ziemlich prekär. Manch einer lehnt die Wahl ab, weil er sich das Bundesratsamt schlicht nicht leisten kann. Und viele müssen im Amt bis zum Tod ausharren, weil es keinerlei Altersversorgung gibt. Aber zurück zum 4. Dezember 1851: Die ersten drei Bundesräte – der Zürcher Jonas Furrer, der Solothurner Josef Munzinger, der Waadtländer Henri Druey – schaffen die Wiederwahl im ersten Wahlgang. Schon drei Wahlgänge benötigt dann der St. Galler Wilhelm Matthias Näff – und der Berner Ulrich Ochsenbein, in seinem Kanton wegen seiner kompromissbereiten Politik in Ungnade gefallen, kommt nach Stefano Franscini (Tessin) und Friedrich Frey-Herosé (Aargau) als Letzter ins Ziel.
Drei Jahre später wird Ochsenbein abgewählt werden. Er sieht es kommen, und geht deshalb lieber auf die Jagd als ins Parlament, wo noch die ungeschriebene Regel gilt: Wer Bundesrat werden will, muss gewähltes Parlamentsmitglied sein. Nachfolger wird aber nicht der von den Bernern portierte offizielle Kandidat Johann Bützberger, sondern Ochsenbeins Erzfeind, der Radikale Jakob Stämpfli. Die Bundesratswahlen vom 6. Dezember 1854 bringen mit ihren insgesamt 23 Wahlgängen einen bis heute gültigen Rekord.
«Den ganzen Bundesrath über Bord werfen»
Schon vor dem Zusammentreten von National- und Ständerat ist das politische Klima von derart bitterbösen Kommentaren geprägt, dass die liberale «Neue Zürcher Zeitung» warnt, radikale Heisssporne wollten «den ganzen Bundesrath, wie er leibt und lebt, über Bord werfen». In zynischer Anspielung auf kranke Bundesräte spottet insbesondere die welsche Presse über das «hôpital fédéral», mokiert sich über die Hasen («lièvres»), Schaufensterpuppen («mannequins») und Hampelmänner («pantins») im Bundesrat, «die nach der Musik der jungen Schulen um den liberalen Zürcher Escher und den radikalen Berner Stämpfli tanzen würden», wie Altermatt schreibt.
Man sieht an den Bezeichnungen: Es gibt noch nicht die Parteien, wie wir sie heute kennen. Die entstehen erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es gibt nur lose Gruppierungen, die sich mit der Zeit deutlicher abzeichnen: Auf der Rechten die vom noch bis 1919 herrschenden Majorzwahlrecht benachteiligten Konservativen; auf der Linken die später im Freisinn aufgegangenen Radikalen, zu deren Anliegen ein starker Staat und zu deren Kennzeichen der Antiklerikalismus gehörte; in der Mitte die Liberalen, deren mächtiger Drahtzieher über Jahrzehnte der Unternehmer Alfred Escher ist.
Der Bundesrat verbreitert sich
Ausgeschlossen bleiben lange jene katholisch-konservativen Kreise, die im Sonderbundskrieg unterlegen sind. Erst 1891 schafft es mit dem Luzerner Josef Zemp zum ersten Mal ein Oppositioneller in den Bundesrat. Angestossen haben diesen wichtigen Schritt in Richtung Allparteienregierung jene Volksrechte, die ab 1874 in die Verfassung kommen. Als weitere Schritte folgen: 1919 der zweite Bundesrat aus dem katholisch-konservativen Lager, 1929 der erste Vertreter der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB, später SVP), 1943 der erste, 1959 der zweite Sozialdemokrat, und 2003 mit Christoph Blocher der zweite SVP-Vertreter. Sie ermöglichen es oppositionellen Kräften, mittels fakultativem Referendum und seit 1891 auch via Verfassungsinitiative die Regierungspolitik zu korrigieren – und so auch die Beteiligung an der Regierung zu erzwingen.
Vorteilhafte Mittelmässigkeit
Ohne Krisen geht es dabei selten ab, denn die Gräben sind schon in der jungen Eidgenossenschaft tief, und zwar vor allem zwischen Katholiken und Protestanten. «Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass der Kulturkampf um 1870 den emotionalsten Konflikt in der schweizerischen Politik darstellte», stellt Altermatt fest. «Obschon auch die Eisenbahnfrage zu heftigem Streit führte, berührte sie die Emotionen nicht so tief.»
Doch das Parteipolitische ist nur eines von mehreren Elementen, die in die Bundesratswahlen einfliessen. Regionale Aspekte spielen auch eine wichtige Rolle – vor allem aber muss die Person passen. Die Bundesräte müssen ja irgendwie auch miteinander auskommen. Gesucht sind also nicht so sehr dominante Anführer als vielmehr kompromissbereite Teamplayer.
Mittelmässigkeit erleichtere das Regieren im Kollegium, hat schon alt Bundesrat Numa Droz, der von 1876 bis 1892 in der Regierung sitzt, mit feiner Ironie festgestellt. Und der Thurgauer Heinrich Häberlin, freisinniger Bundesrat von 1920 bis 1934, hat in seinem Tagebuch beredt davon Zeugnis abgelegt, wie mühsam es war, in einer von der Rivalität der beiden Alphatiere Jean-Marie Musy (Konservative Volkspartei) und Edmund Schulthess (FDP) gelähmten und durch gezielte Indiskretionen diskreditierten Regierung zu arbeiten.
Christoph Blochers Triumph und Scheitern
Es sind selten die Hitzköpfe, die im Bundesrat reüssieren. Manche treten aus politischen Gründen zurück. Wie 1872 der Zürcher Liberale Jakob Dubs, der den Plan einer Verfassungsrevision mit grobem Geschütz öffentlich angreift, indem er das «Herrenvolk» des herrschenden «Systems» attackiert. Oder wie 1917 der St. Galler Freisinnige Arthur Hoffmann, der sich in der Aussenpolitik eigenmächtig zu weit vorgewagt hat. Oder wie 1934 Jean-Marie Musy, der bei seinen Kollegen mit dem Plan einer autoritären Umgestaltung der Schweiz aufläuft.
Dass man als kraftvolle Persönlichkeit auch scheitern kann, hat als Letzter Christoph Blocher erfahren müssen. Obwohl er sich – nach dem Sieg in der Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 und nach Wahlerfolgen 1995, 1999 und 2003 – am 10. Dezember 2003 am Ziel sieht: Die Drohung mit dem Gang in die Opposition wirkt, Ruth Metzler (CVP) wird ab- und Blocher neu gewählt. Und macht sich mit Energie und Tatkraft im Justiz- und Polizeidepartement an die Arbeit.
In gebotener Stille allerdings geschieht das nicht. Auch als Bundesrat sei Blocher «unverblümt als Parteimann der SVP aufgetreten», schreibt Urs Altermatt in dem von ihm herausgegebenen Bundesratslexikon. «Blocher liebte die Rolle des politischen Unruhestifters», und da die anderen Bundesräte die Führungsambitionen eines einzelnen Kollegen ablehnten, «kam es zu leidenschaftlichen Debatten, die gelegentlich in der Öffentlichkeit ihre Fortsetzung fanden».
So ereilte diesen «Einzelkämpfer, der sich nur mit Mühe ins Kollegium integrieren liess», und dem als ehemaligem Patron eines erfolgreichen Grossunternehmens «das langwierige Schmieden dauerhafter Allianzen und stabiler Mehrheiten nicht lagen», am 12. Dezember 2007 das seltene Schicksal einer geschickt, weil heimlich eingefädelten Abwahl.
Wobei es, nach Altermatts Einschätzung, «nicht zur Abwahl gekommen wäre, wenn Blochers Eintritt in die Landesregierung vier Jahre zuvor nicht mit der Abwahl einer amtierenden Bundesrätin verbunden gewesen wäre. Der Tabubruch von 2003 provozierte die Retourkutsche».
Literatur: Als Grundlagen für diesen Text verwendet wurden die Werke von Urs Altermatt: Das 2019 von ihm herausgegebene, überarbeitete Bundesratslexikon, ausserdem: «Vom Unruheherd zur stabilen Republik. Der schweizerische Bundesrat 1848–1875» (erschienen 2020) sowie «Der lange Weg zum historischen Kompromiss. Der schweizerische Bundesrat 1874–1900» (2021), alle bei NZZ Libro.