Die internationalen Schlagzeilen jeweils zur Sonnenwende verdient sich die südchinesische 6-Millionen-Einwohner-Metropole Yulin in der Autonomen Zhuang Provinz Guangxi natürlich nicht wegen des ersten Teils des Festivals, gewidmet den köstlich süssen Lychees. Der zweite Teil allerdings hat es in sich. Das Schlachten, Zubereiten und der Verzehr von Hundefleisch. Zu Tausenden strömen Einheimische und Touristen zwischen dem 21. und 30. Juni zu den spezialisierten Restaurants, um Hunde gegrillt, gekocht, geschnätzelt, gesotten, als Stew oder Suppe zu essen.
Im Jade-Wald (Yulin) beruft man sich auf eine lange Tradition. Schon vor über 500 Jahren, so die Stadtväter, wurden in der Region und mithin in Yulin Hunde verzehrt. Erst in den 1990er Jahren allerdings wurde daraus informell eine Festlichkeit, und ab 2009 eine offizielle und von den Behörden abgesegnete Touristen-Attraktion. Die Stadtregierung begründete das Vorgehen als „Pflicht zur Erhaltung von alten Gebräuchen“.
Horror-Videos
Zu Beginn vor neun Jahren wurden während dem zehn Tage dauernden Fest noch über 10’000 Hunde geschlachtet. In den Folgejahren wurde der Protest innerhalb Chinas, vor allem aber international immer lauter. In den sozialen Medien kursierten Horror-Videos. Hunde wurden erhängt, ertränkt, lebendig gehäutet, mit Elektroschocks und mit Knüppelhieben getötet. Auch chinesische Tierschützer begannen sich aktiv einzumischen. Transporte wurden gestoppt, Hunde und Katzen mit Geldzahlungen gerettet. Tierschützer stürmten Hundemetzgereien und Lastwagen.
Wie sich immer klarer herausstellte, werden viele, wenn nicht die meisten zum Verzehr bestimmten Hunde und Katzen von Banden gestohlen, als Streuner gesammelt und weiterverkauft. Viele dieser Tiere sind infiziert. Bei einem Raid beschlagnahmte die Polizei vor einem Jahr 1’300 Hunde, von denen über 45 Prozent krank waren. Der Volkskongress-Abgeordnete Zhen Xiaohe setzte sich für ein Verbot des Hundefleischhandels ein und wurde online von Millionen von Chinesinnen und Chinesen unterstützt. Vor zwei Jahren verzeichnete eine Petition für ein Verbot des Verkaufs von Hundefleisch elf Millionen Unterschriften.
Redimensioniert
Die Organisatoren des Lychee- und Hundefestivals sind nicht die Behörden, sondern Private, vor allem natürlich Restaurants, Märkte und Metzgereien. Wegen der Schlagzeilen im In- und Ausland sind die ganzen Festivitäten in den letzten Jahren redimensioniert worden. Nicht mehr 10’000 Hunde fallen den Geniessern zum Opfer, sondern jetzt nur noch knapp 3’000, wie es offiziell heisst.
Auch auf weniger brutales Schlachten soll geachtet werden. Dem allerdings widersprechen Videos in den sozialen Medien. Im übrigen rechtfertigen sich die Organisatoren damit, dass das Essen von Hunden nichts anderes sei als das Essen von Schweine-, Hühner-, Rind- oder Kalbfleisch. Der Yulin-Bewohner Wang Yue lässt sich von der britischen Nachrichten-Agentur wie folgt zitieren: „Die Szenen von Hunde-Schlächterei, die man online sieht, sind blutig. Das Töten von irgendeinem Tier ist blutig. Ich hoffe, dass die Leute das objektiv beurteilen.“
„Konzept tierischer Rechte“
Die chinesischen Tierschützer werben mit breit angelegten Aufklärungs- und Informations-Kampagnen nicht nur für mehr Respekt für Hunde und Katzen sondern ganz allgemein für alle Tiere. Sogar die amtliche Nachrichten-Agentur „Neues China“ (Xinhua) stellte sich auf die Seite der Tierschützer. In einer vor zwei Jahren durchgeführten Xinhua-Umfrage unter 15- bis 50-jährigen Chinesen und Chinesinnen sprachen sich 65 Prozent für ein Verbot des Yulin-Festivals aus. Das wird nicht nur damit begründet, dass die internationalen Yulin-Schlagzeilen China schadeten. Vielmehr, so Xinhua, gebe es „eine neue Generation gebildeter und informierter Mittelstandsschichten in allen Städten Chinas“. Sie und Millionen von Einzelkindern liebten Hunde, Katzen und Haustiere, kurz „sie verstehen das Konzept tierischer Rechte“.
150 Millionen Katzen?
Der wachsende Wohlstand hat in der Tat die Einstellung vieler Chinesen und Chinesinnen zu Haustieren grundsätzlich verändert. Zu Maos Zeiten waren Haustiere noch tabu, da bürgerlich und konterrevolutionär. Bis in die späten 1990er Jahre war das Halten von Hunden, Katzen und andern Haustieren aus hygienischen Gründen verboten.
Kaum legalisiert und offiziell erlaubt, schwoll die Zahl der Haustiere in den Städten dramatisch an. In Peking beispielshalber wurden 2002 bereits 140’000 Hunde registriert. Das war nicht billig. Noch heute bezahlt man bei der Registrierung 1’000 Yuan (umgerechnet 150 Franken), dazu jährlich 500 Yuan. 2014 wurden dann in der Hauptstadt 1,24 Millionen registrierte Hunde gezählt, und Ende 2016 waren es zwei Millionen.
Die Pekinger Tieraktivistin Lin Kun schätzt die Zahl der Pekinger Hunde jedoch auf drei bis vier Millionen. Aus einem einfachen Grund: viele alte Pekinger können sich die Registrierung schlicht nicht leisten. Landesweit weisen die Statistiker derzeit rund 30 Millionen Hunde aus, wobei auch hier die Schätzungen bis zu 100 Millionen und höher gehen. Bei Katzen, da nicht registriert, gehen die Schätzungen bis gut und gerne 150 Millionen.
Dackel Meimei
Nicht nur Tierschützer profitieren von der zunehmenden Sensibilisierung für die Rechte der Tiere. Auch die Zahl der Tierfachgeschäfte hat in den letzten zwei Jahrzehnten rasant zugenommen. Vor vier Jahren belief sich laut „Weissbuch 2016 für Chinas Haustiergewerbe“ der Umsatz für Haustierbedarf und Handel auf umgerechnet zehn Milliarden Franken. Vor drei Jahren waren es bereits 14,5 Milliarden, und für 2020 wird mit rund 28 Milliarden gerechnet. Das ergibt in einem Jahrzehnt ein jährliches Wachstum von satten 32,8 Prozent. In Peking – wo die Dackel-Dame Meimei (kleine Schwester) Ihres Korrespondenten die schönsten Jahre ihres langen Lebens verbrachte – gab es 2006 gerade einmal 500 Tierfachgeschäfte. Im vergangenen Jahr waren es fünf Mal mehr.
Die empörten Schlagzeilen der westlichen Medien müssten indes eher zur Selbstreflexion animieren. Wie wird bei uns geschlachtet? Wie werden bei uns Tiere gehalten? Was ist mit unsern westlichen Fleischfabriken? Ihr Korrespondent hat über Jahrzehnte Schlachthäuser als Journalist besucht. Das erste in Buenos Aires in den 1960er Jahren. Danach war Fleischkonsum zwei Jahre unmöglich. Das letzte in Vietnam in Hanoi – das nach meiner Einschätzung wohl beste, wo das Tier (einigermassen) mit Respekt ins Jenseits befördert worden ist.
Bernhardiner vegetarisch
Was Hundefleisch betrifft, sollte Toleranz gelten. In Vietnam musste Ihr Korrespondent als Ehrengast immer am Eingang des Restaurants am Damm über dem Roten Fluss den Hund zum Schlachten aussuchen. Es waren hellbraune, Huskie-ähnliche Hunde. Es war schrecklich. Der Dackel-Dame Meimei konnte Ihr Korrespondent zu Hause nicht mehr in die traurigen Augen sehen.
In Südkorea an den Fussball-Weltmeisterschaften 2002 berichtete Ihr Korrespondent fürs Radio über ein Hunde-Restaurant, spezialisiert auf Bernhardiner. Der Küchenchef sagte im Interview: „Ihr esst doch in der Schweiz auch die herzigen Kälbchen, Warum sollten wir nicht sorgfältig gezüchtete Bernhardiner essen?“ Der Chef in Soeul kreierte mir danach auf meinen Wunsch ein köstliches vegetarisches Gericht.
Hasen-Ragout
Unterdessen haben verschiedene Länder den Hund als Lebensmittel leicht reguliert. Taiwan – die „abtrünnige“ chinesische Provinz – beispielsweise hat den Verzehr, Verkauf und Besitz von Hunde- und Katzenfleisch verboten. Bei Widerhandlung setzt es Bussen bis zu umgerechnet 8’000 Franken ab. In Südkorea ist das Schlachten von Hunden und Katzen verboten. In China, Südkorea und – ja – der Schweiz hingegen ist der Verzehr von Hundefleisch erlaubt und absolut legal. In der Schweiz ist nur der kommerzielle Handel verboten.
Aber Achtung: Bis Mitte des letzten Jahrhunderts galt Hundefleisch zum Beispiel im Rheintal und im Appenzell durchaus als gut und akzeptabel. Noch anfangs der 1960er Jahre erlebte Ihr Korrespondent als Küchengehilfe in einem militärischen Wiederholungskurs Gewöhnungsbedürftiges. Der Küchenchef, in Zivil Metzger, beschaffte sich auf Bauernhöfen Katzen, schlachtete sie und verarbeitete sie als köstliches Hasen-Ragout. Alle wussten es, und niemand reklamierte.
Im Lichte dieser militärischen Erfahrung ist das Plädoyer von „Renmin Ribao“ (Volkszeitung) – das Sprachrohr der allmächtigen Kommunistischen Partei – vernünftig. Zu Recht wird für einen „respektvollen Kompromiss“ geworben. Ganz im Sinne der britischen Qualitäts-Zeitung „The Independent“, die angesichts von jährlich im Vereinigten Königreich „brutal geschlachteten“ 1,9 Millionen Tieren anmerkte: „Die westliche Unterscheidung zwischen Hunden und Farm-Tieren ist komplett willkürlich.“ Haustiere – so Chinas Volkszeitung wohlüberlegt – und Lebensmittel-Tiere seien eine Dualität, die nicht mit Polemik gelöst werden könne.
„Duftendes Fleisch“
Die Pekinger Tageszeitung „Beijing News“ titelte, was Yulin betrifft, vielsagend: „Wo ist die Grenze?“ Die Restaurants in Yulin nehmen sich als Organisatoren unterdessen sehr weit zurück. Wo noch vor einem Jahr das Restaurant-Schild „Duftendes Hunde-Knusperfleisch“ stand, ist mittlerweile das Zeichen für duftendes Hundefleisch (Xiang Gourou) verschwunden und durch Xiangrou (duftendes Fleisch) ersetz worden. Wohl bekomms!