Den Anfang – und das ist schade – kann man nur als missglückt bezeichnen: für den wohl populärsten, in seiner Schlichtheit unübertroffenen anonymen Sechszeiler (du bist min ih bin din/des solt du gewis sin…) bietet uns die Übersetzerin Daniela Seel ein verschwurbeltes Versgebilde an, das mit dem Original nichts mehr zu tun hat, aber auch als neuzeitliches Eigengewächs kaum bestehen kann.
Dann aber geht es abenteuerlich, erfindungsreich weiter. An den meisten Übertragungskünsten der 70 Autorinnen und Autoren wird man seine helle Freude haben. Die beiden Herausgeber der Anthologie, Tristan Marquardt und Jan Wagner, haben sich etwas ganz Besonderes vorgenommen: zeitgenössische Lyrikerinnen und Lyriker sollten sich im reichen Schatz deutschen mittelalterlichen Minnesangs bedienen, und die von ihnen ausgewählten mittelhochdeutschen Gedichte in ein heutiges Deutsch übertragen. Wobei dieses heutige Deutsch sehr breit auszulegen wäre. Aneignungen aus älteren Sprachschichten, eigentliche verbale Collagen haben darin ebenso Platz gefunden wie lautliche und sprachliche Experimente oder trendige Anleihen bei Ausdrücken der Umgangssprache.
Liebesverbot
„Unmögliche Liebe“ nennen die Herausgeber ihr Buch; und Tristan Marquardt, seines Zeichens Mediävist, erklärt in seinem Vorwort, wie es zu diesem Titel gekommen ist. Die Minne, also die Liebe, im frühen Mittelalter Hauptthema der gesprochenen und gesungenen Lyrik, war in der vor Publikum vorgetragenen Form fast ausschliesslich eine Domäne der Männer. Und diese liebenden, werbenden Männer, die sich in Tausenden von Versen verausgabten, um bei den angebeteten Frauen Gegenliebe zu entzünden, blieben sozusagen immer erfolglos. So wollte es die literarische Konvention, so wollte es ein starres Tugend- oder Wertesystem, das jegliches Liebesverlangen mit Tabus belegte und es der Frau, der lebendig gewordenen Perfektion, verbot, nachzugeben, einen Liebhaber zu erhören.
Sklavisch wurde diesem ehernen Konzept zum Glück nicht entsprochen. In den sogenannten Tageliedern hat ein Paar eine Liebesnacht genossen und beklagt bei anbrechendem Tag in Wechselreden die bevorstehende Trennung. Viele der im Buch versammelten Dichter und Sänger haben sich auch in diesem Genre versucht und die entsprechenden Texte gehören mit zu den schönsten des Bandes.
Gelungene Transplantationen
Es lohnt sich, die jeweils nach den Übertragungen abgedruckten Originaltexte zu lesen, um zu ermessen, was daraus gemacht wurde. Mittelhochdeutsch lässt sich, auch wenn man kein Germanist ist, mit ein bisschen spekulativer Fantasie dem Sinn nach verstehen. Übertragen die einen möglichst nahe an der Vorlage, nehmen sich andere jede nur denkbare Freiheit, um aus dem alten Gedicht ein neues zu machen. Hier wird der Rhythmus übernommen, dort der Reim; der eine interpretiert, wendet linguistische Kategorien an, der andere verändert das Original bis zur Unkenntlichkeit.
Ein Könner wie Durs Grünbein steht einem Minnesänger wie Oswald von Wolkenstein an Virtuosität in nichts nach, wenn er dessen facettenreiche Liebeseloge neu formuliert. Ulrike Draesner findet genau die richtige, knappe, elegante Sprache, um Walthers von der Vogelweide vielleicht berühmtestes Gedicht (under der linden an der heide …) umzuschreiben. Und die Schweizerin Nora Gomringer fällt mit frechen, absolut treffsicheren Umsetzungen auf, wenn sie mittelalterliche Männer in ihre Sprachwelt transplantiert.
Lyrik aus einem fremden Idiom ins eigene zu übertragen, gehört zu den schwierigsten Aufgaben und gelingt noch am besten, wenn der Übersetzer selber Lyriker ist, der weiss, wie er es anstellen muss, dass sein Text wieder zu einem wirklichen Gedicht wird. „Unmögliche Liebe“ bietet der Leserin, dem Leser Einblicke in eine Werkstatt. Verse werden darin geschmiedet, dass die Funken nur so stieben.
Tristan Marquardt und Jan Wagner: Unmögliche Liebe. Carl Hanser Verlag. CHF 39.90.