Die Nahost-Politik der Europäer befindet sich im Blindflug ohne Instrumente: Vor Schrecken starr verfolgen die Regierungen (und mit ihnen ein Grossteil der Öffentlichkeit) den Konflikt im Nahen Osten. Folgt nun die angedrohte Reaktion Irans nach der israelischen Attacke auf das Konsulat seiner Botschaft in der syrischen Hauptstadt Damaskus und damit die grosse Eskalation, der Flächenbrand in der Region?
Mehrere Regierungen flehen die Machthaber in Teheran förmlich an, sie mögen sich «zurückhalten», aber US-Präsident Biden versichert, respektive droht, sein Land werde immer felsenfest an der Seite Israels stehen. Was im Klartext heisst, dass die USA im Fall des Falls in einen Krieg gegen Iran eintreten werden.
Im Gegensatz zu den USA äussert keine europäische Regierung für den Fall einer Eskalation ihre Solidarität mit Israel – zur Zeit läuft eine Tendenz in gegenteiliger Richtung: Eine ganze Reihe von Regierungen kündigt an, einen palästinensischen Staat anzuerkennen. Spanien ist an der Spitze der Initiativen, gefolgt von Irland, Slowenien, Malta und Norwegen. Frankreichs Präsident Macron äusserte immerhin, die Anerkennung eines Palästinenserstaats sei für sein Land «kein Tabu».
138 Staaten solidarisieren sich mit den Palästinensern
In Schweigen hüllt sich bei diesem Thema jedoch die Regierung in Berlin – Deutschland fühlt sich verpflichtet, die israelische Führung nie zu brüskieren, liefert in grossem Stil Waffen (fast 30 Prozent des von Israel importierten Kriegsmaterials stammt aus Deutschland) und entsendet, um den Eindruck von einseitigem Engagement abzudämpfen, Aussenministerin Baerbock immer wieder in den Nahen Osten, um den arabischen Regierungen und den Palästinensern zu versichern, dass man sich in Berlin um das Schicksal der Menschen im kriegsverwüsteten Gaza-Streifen kümmere.
Schaut man sich die Weltkarte an, ist Palästina schon von den meisten Regierungen anerkannt: 138 von 193 haben sich auf diese Weise mit den Palästinensern solidarisiert. Allerdings: Das sind fast alles Länder des so genannten globalen Südens und des ehemaligen Ostblocks, die sich noch vor der Wende von 1989/1991 (Fall der Berliner Mauer und Auflösung der Sowjetunion) so entschieden haben. Die Ausnahmen im Westen sind Schweden (Anerkennung im Jahr 2014) und Island (2011). Genützt hat es den Palästinensern allerdings praktisch nichts – Israel intensivierte den Bau von so genannten Siedlungen (das sind mehrheitlich mittelgrosse Städte) und für die Siedler reservierte Strassen dennoch. Und untergrub damit die Idee eines palästinensischen Staates mehr und mehr.
Die Realität in der Region anerkennen
Aber was ist überhaupt ein Staat? Dazu erliessen die Teilnehmer einer Konferenz in Montevideo im Jahr 1933 eine Theorie: Voraussetzungen für Staatlichkeit seien ein abgegrenztes Territorium, eine dort ansässige Bevölkerung und eine eigene Regierung. Dass die erste Voraussetzung im Fall Palästinas nicht erfüllt ist, dafür sorgt Israel mit seiner Besiedlungs-Strategie. Auch die zweite ist fraglich: Die derzeit etwa 600’000 im Palästinensergebiet lebenden Israeli würden sich ja mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren, jemals unter eine palästinensische Gesetzgebung zu geraten. Und was die dritte (eigene Regierung) betrifft: Auch davon ist man weit entfernt. Die Autonomiebehörde von Präsident Abbas ist bestenfalls eine Verwaltung mit (durch Israel) eingeschränkten Kompetenzen.
Fazit: Von Staatlichkeit kann im Fall der Palästinensergebiete keine Rede sein. Weshalb aber dann die Vorstösse Spanien, Irlands etc., trotzdem einen Staat Palästina anzuerkennen? Weil sie alle zur Überzeugung gelangt sind, dass dies das einzige Mittel ist, um die israelische Regierung dazu zu bringen, die Realität in der Region anzuerkennen.
Realität ist: Auch wenn der entsetzliche Gaza-Krieg einmal zu Ende ist, werden die beiden Völker, jenes der Juden und jenes der Palästinenser, dazu verurteilt bleiben, auf kleinstem Raum nebeneinander zu leben.
Israel lebt in einer Illusion
Diese Erkenntnis ist allerdings nicht bis zu Premier Netanjahu und noch weniger bis zu seinen weit rechtsradikalen Koalitionspartnern gedrungen. Auch nicht zu den Chefs von Hamas. Beide Seiten wiegen sich in der Illusion, sie könnten ihren Total-Anspruch durchsetzen – der Slogan «vom Fluss bis zum Meer», «min al nahr ila al bahr», (also vom Jordan bis zum Mittelmeer) ist jetzt nicht nur die Leitlinie von Hamas, sondern auch der rechtsaussen-Politiker Israels. Und was sie und Regierungschef Netanjahu betrifft: Sie leben offenkundig auch in der Illusion, Israel könnte selbst einen offenen Krieg mit Iran, einen Flächenbrand in der Region des Nahen und des Mittleren Ostens, gewinnen. Und der US-amerikanische Präsident profiliert sich als Garant solcher Hybris: «Wir haben uns der Verteidigung Israels verschrieben», sagte er eben. Und ermahnte Iran mit der unterschwelligen Drohung: «Lasst es …»
Die Mehrheit der europäischen Regierungen allerdings beurteilt die Lage in der Krisenregion anders als die US-amerikanische.