In Rom brodelte es: Selten waren auf den Strassen und Plätzen so viele Einsatzkräfte zu sehen. Eine Woche nach dem von Neofaschisten dominierten Protest gegen das Corona-Impfen demonstrierten am Samstag laut Medienberichten auf der Piazza San Giovanni 200’000 Menschen gegen den Faschismus. (Die Behörden sprechen von 60’000.) Organisiert worden waren die Kundgebungen von den drei grossen italienischen Gewerkschaften. Hunderte Reisebusse waren in Rom erwartet worden. Auf Bahnhöfen und an Autobahn-Zahlstellen fanden Grosskontrollen statt. Da man befürchtete, dass sich Rechtsextreme unter die Demonstranten mischten, war die Alarmstufe hoch.
Nicht genug: Am Samstagabend spielte im Olympia-Stadion Lazio Rom gegen Inter Mailand – eine Hochrisiko-Partie. Insgesamt wurden für das Spiel 4’000 Polizisten aufgeboten. (Das Spiel endete 3:1 für Lazio).
„Judenrazzia“
Und: Am Samstag jährte sich zum 78. Mal der Jahrestag der „Judenrazzia“ in Rom. Am Sabbat des 16. Oktober 1943 verhafteten mehrere hundert SS-Einsatzkräfte 1022 ahnungslose Juden, unter ihnen 200 Kinder. Sie wurden nach Ausschwitz deportiert. Nur 16 kehrten zurück.
Und ausgerechnet die postfaschistische Partei „Fratelli d’Italia“ von Giorgia Meloni wollte an diesem Samstag im jüdischen Ghetto in Rom einen Kranz niederlegen. Die jüdische Gemeinschaft war entsetzt: Die Kranzniederlegung wurde abgesagt – oder zumindest verschoben.
Im antisemitischen Teich fischen
Doch es ging den Postfaschisten von Giorgia Meloni wohl weniger um ein Reue-Bekenntnis den Juden gegenüber als um Wahltaktik. Denn an diesem Sonntag und Montag findet in Rom die Stichwahl um das Bürgermeisteramt statt. Die Wahllokale schliessen am Montag um 15.00 Uhr. Dann werden erste Trendmeldungen erwartet.
Der Kandidat der Rechtsparteien wird von Leuten unterstützt, die zum Teil im antisemitischen und rassistischen Teich fischen. Mit der Kranzniederlegung wollte man den rechts stehenden Bewerber quasi „reinwaschen“. Am Vorabend der Wahl nannte denn Giorgia Meloni das Judenmassaker plötzlich eine „nazifaschistische Raserei“.
Stichwahl zwischen Michetti und Gualtieri
Beim ersten Wahlgang vor zwei Wochen erreichte Enrico Michetti, der Kandidat der Rechtsparteien, 30,1 Prozent der Stimmen. Damit lag er 3,1 Prozent vor dem Zweitplatzierten, dem Sozialdemokraten Roberto Gualtieri.
Dritte – und damit Überzählige – wurde vor zwei Wochen die bisherige Bürgermeisterin Virginia Raggi. Sie gehört der Protestbewegung „Cinque Stelle“ an. Vierter wurde Carlo Calenda, Gründer der kleinen Mitte-links-Partei „Azione“. Er kam, wie Virginia Raggi, auf rund 19 Prozent der Stimmen.
Portiert von den Postfaschisten
Der 55-jährige Rechtskandidat Enrico Michetti ist politisch völlig unerfahren. Bekannt wurde er als Moderator und Talkmaster seines Römer Radios, das den sehr originellen Namen „Radio Radio“ trägt. Portiert wurde er von den Fratelli d’Italia. Unterstützung erhielt er schliesslich – etwas widerwillig – von der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini und von Forza Italia von Silvio Berlusconi. Offensichtlich mangelte es der Rechten an durchschlagskräftigen, bekannten Kandidaten.
In der Entourage von Michetti hatten sich rassistische und antisemitische Kräfte eingenistet. Diese traten ab und zu auch in seinem Radio Radio auf. Inzwischen hat die Regierungsbehörde „Agcom“ gegen Radio Radio eine Untersuchung wegen „antijüdischer und nazifaschistischer Äusserungen“ eingeleitet.
„Lenin war ein Jude ...“
So hiess es unter anderem in einer Sendung: „Lenin war Jude und hat viele Menschen getötet.“ Und ein gewisser Mimmo Politanò erklärte am vergangenen Mittwoch auf Radio Radio, dass die Juden am Massaker vor 78 Jahren selbst schuld gewesen seien.
Auf Michettis Liste befinden sich auch Mitglieder der rechtsextremen Organisationen CasaPound und Forza Nuova, ebenso die laute Impfgegnerin Francesca Benvento mit ihren antisemitischen Eskapaden.
„Ich habe sogar einige Schwarze gesehen“
Auch Michetti selbst wurde an den Pranger gestellt. Bekannt wurde jetzt eine frühere Schrift von ihm, in der er erklärt hatte, dass „für die Juden mehr Barmherzigkeit herrschte, weil sie die Banken hatten“. Schnell musste sich der Rechtskandidat für diese Peinlichkeit entschuldigen.
Nach dem Lawinenunglück in Rigopiano im Januar 2017, bei dem 29 Menschen starben, sagte Michetti auf Radio Radio: „Ich habe sogar einige Schwarze gesehen, die geholfen haben. Um Himmels willen ... das ist lobenswert. Aber es muss dort Leute geben, die wissen, was sie tun.“
Morddrohung der Roten Brigaden
Einige seiner Anhänger kritisieren den Papst wegen seiner Migranten-freundlichen Haltung. Immer mehr wurde Michettis Sender zu einem „No-Vax“-Sender.
Die linksextremen Roten Brigaden mischten sich mit einer klaren Morddrohung in den Wahlkampf ein. Am Hauptquartier von Michetti in der Via Antonio Malfante war diese Woche ein roter fünfzackiger Stern aufgemalt worden – das Symbol der Roten Brigaden. Darüber stand: „Faschist“ und: „Erinnere dich an den Piazzale Loreto“. Dort waren Mussolini und seine Geliebte Claretta Petacci kopfrunter aufgehängt worden.
Roberto Gualtieri, früherer Wirtschaftrsminister
Michettis Gegenkandidat, der ebenfalls 55-jährige Sozialdemokrat Roberto Gualtieri, war 2019 vom damaligen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte zum Wirtschafts- und Finanzminister ernannt worden. Er ist ausserordentlicher Professor für Zeitgeschichte an der Römer Universität Sapienza, hat mehrere Bücher über die italienische Geschichte geschrieben und ist stellvertretender Direktor der Stiftung des Gramsci-Instituts. Er gilt als pragmatischer, seriöser, „rot angehauchter Linker“. Zehn Jahre lang war er Mitglied des EU-Parlaments.
Unterstützt wird Gualtieri von Carlo Caldena und seiner gemässigten Linkspartei Azione. Auch Giuseppe Conte, der frühere Ministerpräsident und jetzige Parteichef der Cinque Stelle, hat sich auf die Seite seines früheren Wirtschaftsministers geschlagen.
Gespaltene Fünf Sterne
Doch die Cinque Stelle sind gespalten. Wieder einmal. Virginia Raggi, die bisherige Bürgermeisterin, tat sich schon wieder schwer, einen Entscheid zu fällen. Sie erweist sich als schlechte Verliererin. Offenbar tendiert sie und ihre Anhänger zum Rechtskandidaten Michetti.
Obwohl Michetti im ersten Wahlgang am meisten Stimmen erhielt, wird er es schwer haben. Dass sich auf seiner Liste antisemitische, rassistische und neofaschistische Kandidaten tummelten, ist ein schweres Handicap für ihn.
Rein rechnerisch sollte Gualtieri gewinnen
Zudem: Der Sozialdemokrat erhält die Unterstützung von Roberto Calenda, der im ersten Wahlgang immerhin fast 20 Prozent der Stimmen erhielt. Andererseits wird wohl ein erheblicher Teil der Cinque-Stelle-Wähler dem Aufruf Giuseppe Contes folgen und den Sozialdemokraten wählen. Ein anderer Teil wird mit Virginia Raggi für den Rechtskandidaten stimmen. Unter dem Strich fallen also – rein rechnerisch – mehr Stimmen für den linken Kandidaten ab.
Natürlich ist immer alles möglich, doch es wäre eine grosse Überraschung, wenn Rom in den nächsten Jahren nicht von einem „rot angehauchten“ Linken regiert würde.